Irgendwie zwischen Gendern und dem nackten Überleben

Der Kulturkampf unserer Zeit ist voll entbrannt. Auf der einen Seite wähnen sich die Vorkämpfer für die maximale individuelle Repräsentation der Gesellschaft, Freiheit und Anerkennung aller, umgekehrt oft als „woke“ verschrien. Und auf der anderen Seite schütteln Menschen genervt, bisweilen aggressiv den Kopf und verweisen auf teure Lebensmittel, wegbrechende Existenzen und die „echten Probleme breiter Gesellschaftsschichten“, die einem verkopften Pseudoproblem städtischer Akademiker*innen nachgestellt würden. Aber ist das wirklich das große Problem unserer Zeit?

Die Bayern und das Gendern

Mein Aufhänger für den heutigen Beitrag liefert der Freistaat Bayern, den ich längst nicht mehr wirklich „Heimat“ nennen möchte (meine Heimat ist inzwischen hier in Basel), aber „place of origin“ bleibt es dennoch. Was haben die Bayern also wieder angestellt? Zusammen mit seinen Christsozialen sowie dem leicht problematischen Koalitionspartner, den Freien Wählern, hat der Söders Markus beschlossen in Bayern endgültig Nägel mit Köpfen zu machen. Das Gendern ist im öffentlichen Dienst ab sofort verboten. Sprach“verhunzungen“ wie Sternchen, Doppelpunkte und Unterstriche haben für Beamt*innen ab sofort Konsequenzen zufolge, für Schüler*innen werden entsprechende Verwendungen künftig angestrichen, wenngleich nicht als Fehler gewertet.

Um es gleich vorneweg zu sagen: Es ist mir persönlich tatsächlich ziemlich egal, ob jemand gendert oder nicht. Ich halte jemanden, der sich dem verweigert, deshalb nicht grundsätzlich für einen schlechten Menschen. Natürlich sagt eine solche Weigerung etwas über die sprechende oder schreibende Person aus. Aber das ist nichts Neues im breiten Feld der Kommunikation, wo Wortwahl, Tonfall, Ausdruck, Betonungen und vieles mehr dazu geeignet sind, nicht nur Inhalte zu transportieren, sondern diese auch mit einer gewissen Emotion und Grundstimmung zu füllen. Die Weglassung oder Verweigerung von Elementen ist ebenso ein kommunikatives Signal wie deren Verwendung.

Womit ich allerdings ein Problem habe ist Heuchelei. Der Staatskanzleichef Florian Hermann wird beispielsweise mit den Worten zitiert, es gehe darum, „Diskursräume in einer liberalen Gesellschaft offenzuhalten“, und ZeitOnline paraphrasiert weiter: „Eine ideologisch geprägte Sprache etwa beim Gendern habe dagegen eine exkludierende Wirkung“ (siehe einen Beitrag in ZeitOnline).

Das ist an Absurdität kaum noch zu überbieten. Erstens wird auch jemand, der das generische Maskulinum bevorzugt und als gängige Sprachregel akzeptiert, kaum verleugnen können, dass es sich dabei um eine sprachgewordene Folge einer historisch männerdominierten Gesellschaft handelt. Das heißt ausdrücklich nicht, dass jeder, der ein generisches Maskulinum verwendet, Frauen an den Herd schicken möchte. Es ist nur Ausdruck dessen, dass sich Lebenswirklichkeiten wenig überraschend in Sprache manifestieren. So, wie wir üblicherweise von Sekretärinnen und Krankenschwestern sprechen oder sprachen, weil diese Berufe früher üblicherweise von Frauen besetzt wurden, hingegen Ärzte und Chefs wieder männlich standardisieren. Dass Sprache ein Abbild der Lebenswirklichkeit ist, ist auch nicht weiter überraschend. Immerhin beschreiben wir unser Leben tagtäglich mit genau dieser Sprache, müssen teilweise auch neue Worte generieren. Und eben auch die zugehörige Grammatik und Syntax.

Insofern ist es bizarr, wenn Florian Hermann die aktuelle Sprachregelung offenbar zu einem ideologiefreien, natürlichen Konstrukt deklariert, das es natürlich nicht ist. Aber es wird ja noch wilder. Denn in Zeiten von Kimakrise, Ukrainekrieg, militärischer Gewalt im Nahen Osten, dem Rechtsruck in zahlreichen demokratischen Ländern, einem zunehmenden Wandel von Demokratien in Autokratien haben CDU/CSU fast schon einen Alleinvertretungsanspruch für das Gendern als politisch relevantem Thema. Sonst interessiert sich kaum jemand dafür. Die CSU hält somit also keineswegs „Diskursräume in einer liberalen Gesellschaft“ offen, wo die Debatte üblicherweise auch stattfindet, sondern versucht das genaue Gegenteil. Sie spielt selbst Sprachpolizei, um auf diese Weise bestehende gesellschaftliche Kategorisierungen sprachlich zu zementieren.

Dazu kommt der Hinweis darauf, dass ein solches Verbot ungeachtet möglicher künftiger Entscheidungen gelten solle, die Institutionen zur Bewahrung der deutschen Sprache irgendwann einmal treffen würden. Mit Realpolitik hat all das nichts mehr zu tun. Mit Ideologie hingegen sehr viel.

Da erübrigt sich fast schon der finale Hinweis darauf, dass die Idee des Genderns nachgerade die Inklusion breiter Gesellschaftsteile in den Sprachgebrauch ist. Aber in der CSU wird man schon wissen, wie die sprachliche Abbildung einer breiteren gesellschaftlichen Masse „exkludierende Wirkung“ haben soll.

Übrigens: Es spielt in diesem Zusammenhang tatsächlich keine Rolle, ob eine Mehrheit der Bevölkerung das Gendern persönlich ablehnt. Es gibt schließlich keinen Versuch, das Gendern gesetzlich vorzuschreiben. Niemand wird dazu gezwungen. Jede*r kann sich sogar frei dazu entscheiden, einen Text zu ignorieren oder ein Gespräch zu verweigern, wenn der Duktus dem eigenen Sprachgebrauch zuwider läuft und man deswegen nicht kommunizieren möchte. Es muss schließlich auch nicht die Mehrheit der Deutschen schwul sein, um die Beziehung zwischen zwei Männern zu legitimieren.

Das grössere Ganze

Um die CSU hier zu verstehen, muss man das Gendern in einen größeren Kontext setzen. Denn die ganze Genderdebatte ist wichtiger Bestandteil eines Kulturkampfes, der seit einiger Zeit in den USA wütet und zunehmend auch bei uns in Europa, wenigstens in Deutschland Fuß fasst: der vermeintliche Krieg gegen die „wokeness“, also gegen die zunehmend wichtiger werdende Identitätspolitik, die vornehmlich sehr private Eigenschaften wie optische Erkennungsmerkmale, geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung zum Ziel hat. Eine „aggressive Minderheit“ drücke damit der breiten Mehrheit ihren Willen auf und ignoriere vollständig die oftmals existenziellen Sorgen zahlreicher Bürger*innen, so der Vorwurf. Und weil selbst dieses Bild für Wähler*innen vermeintlich zu komplex ist, kann man es noch leichter herunterbrechen: Es ist, mal wieder, ein Kampf links gegen rechts. Die CSU (und zunehmend auch die CDU) instrumentalisiert genau diesen Konflikt, um sich als Bewahrerin einer Gesellschaftlichkeit zu präsentieren, für die sie gar nicht im Besonderen einsteht. Sie ist nur gegen eine Veränderung, denn das reicht aus, um Stimmen einzufangen.

Der Vorwurf entzündet sich aber nicht nur am Gendern. Die Klimakrise ist auch so ein Feld, das tief darin verstrickt ist. Auf der einen Seite Aktivist*innen, die das Ende einer bewohnbaren Welt prophezeien und sich im heldenhaften Kampf gegen den kapitalistischen Unsinn dieser Welt auf die Teerbahnen der Republik kleben. Und umgekehrt Landwirte, die sich durch zunehmende Umweltbestimmungen und wegfallende Subventionen gegängelt fühlen, mit ihren Traktoren in die Städte ziehen und Misthaufen auf der Autobahn auskübeln.

Im Kern geht es also um die Frage, wessen Probleme wichtiger sind. Und in jeweils beide Richtungen wird so getan, als ob (a) die andere Seite wahnsinnig übertreibt und deren Anliegen völlig an den Haaren herbeigezogen sind. Und (b) als ob beide Gegenpositionen absolut unvereinbar miteinander wären, so dass eine Lösung des Konflikts nur dadurch herbeizuführen sei, dass eine Seite obsiegt und die andere winselnd den Schwanz einzieht und klein beigibt. Kurzum: Ziel der Übung ist die Aufhebung des gesellschaftlichen Konsenses, miteinander friedlich zu streiten und nach tragfähigen Lösungen zu suchen, die möglichst viele Menschen zufrieden stellen und zugleich auch möglichst viel Nutzen für die Allgemeinheit bieten.

Unvereinbares?

Auch wenn ich weiß, dass in der Politik und in Gesellschaften immer nahezu alles mit allem verbunden ist, finde ich manche Verknüpfungen nicht ganz so naheliegend.

Ich kann verstehen, dass Menschen in diesen Tagen immer mehr in Nöte kommen. In Zeiten steigender Inflation wachsen die Ausgaben für Mittel des täglichen Bedarfs, Mieten steigen, Lebenskosten wachsen durch die Decke, während gleichzeitig die schlechte wirtschaftliche Lage für Unruhe und Unsicherheit sorgt. Habe ich am Ende des Monats noch einen Job? Kann ich mit meinem Gehalt überhaupt meinen Lebensstandard halten? Wie soll ich meinen Kindern noch etwas bieten? Das sind existenzielle Sorgen, die Menschen teilweise nicht mehr schlafen lassen, denn in einer kapitalistischen Gesellschaft hängt am Ende alles (überspitzt formuliert) davon ab, ob wir noch finanzkräftig sind oder nicht.

Diesen Menschen wird es, vorsichtig ausgedrückt, sche*ß egal sein, ob man irgendwo ein Sternchen, einen Doppelpunkt oder sonstwas setzt, und ob sich jemand durch den Begriff „Polizist“ angegangen fühlt weil damit die Polizistin nicht mit gemeint sein könnte. Viel wichtiger ist diesen Menschen sicherlich die Stabilisierung der ökonomischen Situation und eine Verbesserung der eigenen Lage. Ein politisches Wirken gegen zusätzlichen administrativen Aufwand, nicht noch mehr Regulierungen und Regeln, die es einzuhalten gilt. Und ich halte es für sehr wichtig, dass man diese ganz grundlegenden Sorgen, Probleme und Ängste nicht als Kleinigkeiten abtut, denn die Befähigung zu einem selbstbestimmten, freien Leben in unserer Gesellschaft ist keine Marginalität, die man als alltägliche Floskel in Zeitungen abtun sollte.

Umgekehrt gilt das allerdings auch für marginalisierte Gruppen. Ich habe selbst früher nicht nachvollziehen können, warum manche Menschen so wild dafür gekämpft haben, dass beispielsweise mehr LGBT-Menschen in Film und Fernsehen, Büchern oder Videospielen auftauchen sollten. Heute, Jahre später, merke ich nicht nur, wie glücklich es mich macht, mich selbst in popkulturellen Produktionen wiederfinden zu können. Sondern auch, wie wichtig das für mich geworden ist. Das Fehlen solcher Repräsentation fällt mir heute direkt auf und hat auch Einfluss auf mein Kaufverhalten. So wird es auch vielen Menschen gehen, die sich durch die Verwendung inklusiver Sprache plötzlich im Schriftbild wiederfinden und sich mit dieser und in dieser Gesellschaft auf einmal identifizieren können.

Ich glaube, beide Seiten haben gar keinen echten Konflikt miteinander. Denn ich bin durchaus davon überzeugt, jeder normale Mensch hätte gerne, dass alle anderen Mitglieder unserer Gesellschaft frei von existenziellen Sorgen leben können. Und auch, dass jeder sich mit dieser Gesellschaft identifizieren kann und sich von dieser anerkannt fühlt. Beides sind essenzielle Grundlagen dafür, glückliche, zufriedene und auch produktive Mitglieder der Gemeinschaft zu sein.

Und ich glaube auch nicht daran, dass die „schlechtere Lesbarkeit“ von Texten durch Gendersprache ein ernsthaftes Problem darstellt. Es geht nicht wirklich darum, dass Leute plötzlich nicht mehr in der Lage wären, Geschriebenes zu lesen, weil sie beim Lesen über die Worte stolpern. Dafür sind viel zu viele schlechte Texte dort draußen, die inhaltlich schon so verhunzt sind, dass man beim Lesen stolpern muss, da regt sich auch keiner drüber auf. Es ist sicherlich eine Frage von Gewöhnung. Aber das kann man problemlos jedem Mitglied unserer Gesellschaft zutrauen, das schaffen wir wirklich alle.

Miteinander statt Gegeneinander

Ich glaube, das Problem ist einmal mehr das schlechter Kommunikation. Wir haben den lösungsorientierten Diskurs verlernt und fokussieren uns an sehr vielen Stellen auf das Maximalergebnis – so sehr, dass wir teilweise Kämpfe bis zum bitteren Ende austragen, deren gegenseitige Forderungen einander gar nicht ausschließen. Ich kann durchaus gleichzeitig die sprachliche Inklusion von Minoritäten verlangen UND mich für die wirtschaftliche Prosperität der breiten Gesellschaft einsetzen. Das große Problem an dieser Stelle ist vielleicht eher die Priorisierung. Wäre es nicht fantastisch, könnten wir uns einfach gleichzeitig um beide Dinge kümmern, müssten wir insbesondere im öffentlichen und medialen Diskurs nicht immer so tun als könnte man nur ein Thema gleichzeitig beackern?

Manchmal hingegen sind Forderungen kontradiktorisch und ein Konflikt unvermeidlich. Die Klimakrise bedingt beispielsweise verstärkte Umweltauflagen, die wiederum zwangsweise zu zusätzlichen Regelungen, Belastungen und Verboten in der Agrarwirtschaft führen. Die wiederum ohnehin schon nur durch starke Subventionierung überlebensfähig scheint. Das Tragische ist hier: Beide Seiten haben realweltliche Fakten als Fundament, an denen man schwer rütteln kann. Die Lösung kann hier aber keinesfalls sein, dass man die Straßen der Republik so lange wahlweise zuklebt oder zukübelt bis man die andere Seite übertrumpft hat.

Um gesamtgesellschaftlich zu einer Lösung zu kommen braucht es den gemeinsamen Dialog. Das setzt erst einmal voraus, das wir beide Probleme als solche anerkennen und akzeptieren, dass wir (a) etwas gegen den Klimawandel tun müssen, und (b) dass wir nicht unsere Bauern dafür opfern können. Beide Seiten müssen im politischen Feld in den Diskurs miteinander einsteigen und nach Lösungen suchen, wie diese Probleme behoben werden können ohne dass eine Seite „verliert“.

Es ist gut möglich, dass ein solches Problem nicht leicht zu beheben ist. Wir haben es hier mit echten Problemen zu tun. Anders als in der Schule sind das keine Textaufgaben zu denen es klare Lösungsansätze gibt, die man nur finden muss. Sondern man bewegt sich in unbekanntem Territorium und muss viel Kreativität und Lösungswillen mitbringen, um sich dem zu stellen. Das kann auch bedeuten, anzuerkennen, dass zwei Parteien alleine nicht in der Lage sind, das Problem zu lösen, sondern man stattdessen weitere Hilfe braucht. Aus der Wissenschaft, aus der Technik. Aus der Politik, aus übergeordneten politischen Vereinigungen. Und es ist auch gut möglich, dass es noch keine Lösung gibt, sondern man gemeinsam an einer Lösung forschen muss.

Das führt bisweilen dazu, dass manche Probleme über Jahre hinweg ungelöst bleiben, weil es keine einfachen Lösungen gibt. Und das frustriert natürlich. Es kann sogar gefährlich werden, weil weder die Klimakrise noch die wirtschaftliche Existenz unserer Mitbürger*innen auf Lösungen wartet. Bis dahin braucht es tragfähige Übergangsregelungen, die trotzdem irgendwie beiden Seiten Rechnung tragen und wenigstens das Schiff nicht zum Kentern bringen. Das ist politisch gesehen die schlimmste Phase, denn das zu kommunizieren ist im Laufe der Zeit zunehmend schwierig, insbesondere wenn (unabsichtliche oder unverschuldete) Untätigkeit in diesem Bereich durch die politische Opposition permanent ausgeschlachtet wird. Aber die ist ja schließlich auch dazu aufgerufen, nach Lösungen zu suchen und dafür zu werben.

Gegeneinander als Grundlage für den Fall der Demokratie

Als wäre die Lage nicht verfahren genug, hat die Situation aber noch weitere Gegenspieler. Denn nicht nur realweltliche Problemstellungen sind eine Herausforderung für unseren demokratischen Lösungsfindungsprozess. Sondern auch jene Individuen, die am Fundament der Gesellschaft selbst kratzen und dieses zu unterminieren versuchen. Wer eine Gesellschaft zu Fall bringen möchte, der schafft dies, indem er oder sie den Prozess der Kommunikation zu Fall bringt und auf diese Weise unterschiedliche Interessensgruppen gegeneinander ausspielt.

Es ist folglich kein Wunder, dass Identitätspolitik von Faschisten als „woke“ betitelt wird und als Anfang vom Ende der Zivilisation. Dass der offene Diskurs über die Frage, wie man für eine bessere Repräsentation breiter Gesellschaftsgruppen im sprachlichen Feld sorgen kann, direkt als Angriff auf die Gesellschaft selbst markiert wird.

Es ist auch kein Wunder, dass seriöse, ernstzunehmende Anliegen wie der Protest von Landwirten umgehend von rechten Gruppierungen gekapert wird, in einen Kampf nicht mehr für Lösungen der eigenen Probleme, sondern vornehmlich „gegen die da oben“, die sich ja gar nicht für Lösungen interessieren würden. Es sind wenig subtile, aber leider trotzdem erfolgreiche Einflüsterungen, die darauf abzielen, den gemeinschaftlichen Diskurs zur Findung von Lösungen zu torpedieren.

Die Absicht dahinter ist recht offensichtlich. Denn zu den vermeintlichen „Schwächen“ einer pluralistischen Demokratie gehört eine gewisse Behäbigkeit. Keine Frage: Der zackige Befehl einer autoritären Führungsfigur hat sehr viel schneller Auswirkungen als der langwierige Lösungsfindungsprozess einer Demokratie, der möglichst viele Akteure und deren Perspektiven mit einbeziehen muss. So bizarr es auch klingen mag, aber für viele Menschen scheint es erstrebenswerter zu sein, eine Veränderung zur Problemlösung wahrzunehmen, als sich selbst in der Problemlösung wiederzufinden. Und dabei wird auch die Aufgabe von individuellen Rechten und Freiheiten schulterzuckend in Kauf genommen.

Womit wir aber wieder beim Ausgangspunkt wären. Denn ist es nicht ein bisschen absurd? In einer gut funktionierenden Gesellschaft, die neben den eigenen individuellen Rechten und Pflichten auch das Wohl um die Gemeinschaft und Gesellschaft im Blick hat, in der Subsidiarität und Solidarität mit Mitmenschen gelebte Praxis ist, ist Identitätspolitik ja gerade Ausdruck einer Problemidentifikation und Problemlösung. In einem autoritären System wird das Problem auch gelöst – aber durch die komplette Aufgabe individueller Freiheiten aller Beteiligten.

Ich ganz persönlich bevorzuge allerdings den diskursiven, pluralistischen Ansatz. Ich glaube auch weiterhin daran, dass die besten Lösungen für Probleme durch eine Vielzahl von klugen Köpfen gefunden werden können, solange alle sich darauf einigen, den Diskurs sachlich und lösungsorientiert zu führen, ohne anderen Beteiligten Niederlagen beibringen zu wollen. Das funktioniert nur, wenn formulierte Probleme auch als solche akzeptiert werden. Wenn Konsens und Kompromiss keine leeren Floskeln sind. Und wenn man die notwendige Geduld mitbringt, nach Lösungen zu ringen bis eine gefunden wurde, ohne vorher entnervt aufzugeben und Barrikaden aufzuschichten. Wenn man zudem die realweltlichen und realpolitischen Begebenheiten inklusive ihrer Dringlichkeiten respektiert.

Es muss Aufgabe von Politik sein, einen solchen liberalen, pluralistischen Diskurs zu moderieren und die Resultate gestalterisch in politische Lösungen zu gießen. Nicht durch die prophylaktische Ziehung von Grenzen, Verboten und das Formulieren von Geboten. Sondern durch die Schaffung eines Rahmens, in dem Probleme ernst genommen werden und parallel diskutiert werden können, ohne dass irgendjemand das Gefühl haben muss, vergessen zu werden. Ein Rahmen, in dem jede*r möglichst niederschwellig Teil des Prozesses sein kann, ganz gleich ob es um die Formulierung von Ideen oder den Hinweis auf bislang ungehörte Problemfelder geht. Der Verlust dieses konstruktiven Miteinanders steht für mich sinnbildlich für den Verlust der Solidarität in einer Gesellschaft. Und daraus kann nichts Gutes erwachsen.

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