Inkompetenzvorwürfe

Seit dem Jahreswechsel heißt es nicht mehr „Anne Will“, sondern „Caren Miosga“ – eine der wichtigsten politischen Talkshows des deutschen Fernsehens wurde ausgetauscht. In ihrer ersten Sendung führte Caren Miosga zunächst ein mäßig interessantes Interview mit Friedrich Merz – warum die Medien aktuell vor allem interessiert zu sein scheinen, wie sich Merz mit Markus Söder aus Bayern im Streit um die Kanzlerkandidatur einigen wird bleibt ein journalistisches Rätsel.

Anschließend kommen noch zwei Experten mit an den Tisch: die ZEIT-Journalistin Anne Hähnig sowie ein Soziologieprofessur der LMU München, Prof. Dr. Armin Nassehi. Und insbesondere was die beiden über die politische Situation in Deutschland und die Bewertung der AfD im Parteiengefüge Deutschlands zu sagen hatten, fand ich wenigstens bedenkenswert.

Viele Probleme, keine Lösungen

Da ist auf der einen Seite Anne Hähnig, die offenbar aus einer ostdeutschen Stadt stammt, einstmals von der CDU dominiert und heute AfD-Territorium, und heute für die ZEIT über ostdeutsche Belange berichtet. In dieser Funktion ist sie natürlich viel im Osten der Bundesrepublik unterwegs, recherchiert und spricht mit Menschen. Warum also wählen vor allem im Osten so viele Menschen die AfD? Für Anne Hähnig scheint das weniger ein Denkzettel zu sein, sondern eine bewusste, eine politische Wahl. Aus ihren Gesprächen mit den Menschen schließt sie, dass viele Bürger*innen im Osten kein Vertrauen mehr in die Problemlösungskompetenz der Regierung und der „etablierten“ Parteien hätten. Man müsse sich also anders orientieren, und die AfD bietet (wenigstens namentlich) eine Alternative an.

Der Soziologieprofessur Armin Nassehi bringt ein verwandtes Argument. Er beobachte in der Gesellschaft einen zunehmenden „Inkompetenzvorwurf“ gegenüber den demokratisch etablierten Parteien. Dieser spiegle sich in verschiedenen Dingen – etwa in Themen, die (vermeintlich) gesellschaftlich breit diskutiert werden, aber in Berlin oder in den Länderparlamenten nicht gelöst werden könnten. In Debatten, die vor allem ideologisch, nicht aber lösungsorientiert geführt würden. Oder in Stellvertreterdebatten.

Stellvertreterdebatten

Damit meint er zum Beispiel die Migrationsthematik, ein politisches Minenfeld, das öffentlich heiß diskutiert wird, aber wenigstens bundesdeutsch kaum Spielraum für nennenswerte Lösungen bietet. Tatsächlich, so wenigstens die Ansicht von Nassehi, gäbe es in der Bundesrepublik auch deutlich wichtigere Themen, vom Zustand der Wirtschaft über Fragen zur Altersarmut, Grundsicherung, den Erhalt und die Sanierung von Bildungseinrichtungen etc. Wir diskutieren medial stattdessen aber über ein Thema, bei dem Deutschland nur beschränkte Handlungsoptionen hat. Und Politiker*innen reagieren darauf nicht selten mit Symbolpolitik, die nach außen Aktionismus symbolisieren soll ala „Wir haben euch gehört, wir handeln!“, die schlussendlich aber wenig bis gar keine Auswirkungen haben wird und kann. In dem Vertrauen darauf, dass die öffentliche Wahrnehmung den Rohrkrepierer längst wieder vergessen haben wird.

Denn wenn beispielsweise Olaf Scholz als Kanzler einer sozialdemokratischen Partei dem AfD-Narrativ nachjagt und medial verkündet, man wolle härter gegen illegale Einwanderung vorgehen und stärker abschieben, so kollidiere das – so Nassehi – nicht nur mit den ideologischen Vorstellungen der eigenen Parteibasis, sondern vor allem auch mit der Realität, dass man auf diese Weise nicht plötzlich 30.000 Menschen in einen Flieger setzen und ins Ausland bringen könne. Der Personenkreis, den das effektiv treffe, ist gering, und in vielen Fällen kommt es auf Einzelfallbeurteilungen an. Ein langsames, mühsames Verfahren, für das Bürger*innen aber kaum Verständnis haben dürften. Es verkauft sich einfach nicht gut.

Für mich persönlich ist die Vorratsdatenspeicherung auch immer wieder so ein Thema. Ein grundsätzlicher Kampf zwischen Grundrechten und Law&Order-Politik, bei dem vor allem CDU/CSU nicht müde werden darauf zu verweisen, dass ein solches Instrument mit Blick auf den Kampf gegen die Kinderpornografie dringend nötig sei. Ein geschicktes Argument, denn wer wird sich schon hinstellen und sagen „Ach was, Kinderpornografie ist nun wirklich kein gewichtiges Thema.“ Niemand. Zurecht. Wir haben die Pflicht, unsere Kinder zu schützen.

Allein, ich weiß nicht wie viele Ausgestaltungen an Vorratsdatenspeicherungen wir schon hatten, die spätestens vor dem EuGH alle einkassiert wurden. Die teilweise auch verfassungswidrig waren und vom BVerfG einkassiert wurden. Beim ersten Versuch ließe ich mir das ja noch eingehen. Aber dass in einer Thematik, die bereits als problematisch in Zusammenschau mit der Verfassung beleuchtet wurde, anschließend immer und immer wieder Versuche unternommen werden, Grundrechte zu unterminieren, kann man nicht mehr mit handwerklichen Fehlern erklären. Sondern muss das als klaren, gezielten Angriff auf das Grundgesetz bewerten. Nichtsdestotrotz eine Stellvertreterdebatte für mich, denn es geht um ein medial aufgeblasenes Thema, das mit Aktionismus vom Tisch gefegt werden soll, obwohl man bereits ahnt, dass es juristisch Schwierigkeiten geben und sich gesetzlich auf bundesdeutscher Ebene keine ganz einfache Lösung finden wird. Ein politischer Treppenwitz.

Politik ist… anders

Aus Sicht eines Wählers kann ich den zunehmenden Vorwurf von Inkompetenz schon nachvollziehen. Das Thema Migration begleitet mich seit meiner Jugend, schon damals wurde heiß debattiert, welche Maßnahmen für die Integration in unsere Gesellschaft essenziell seien, was Migrant*innen und was unsere Gesellschaft zu leisten habe. Tempolimit auf deutschen Autobahnen – auch so ein Dauerbrenner, über den wir uns vermutlich noch unterhalten werden, wenn keiner die Autobahnen mehr nutzt, weil wir alle die Dorothee Bär’schen (CSU) Flugtaxis besteigen. Manche Debatten sind weitaus näher – der Vorwurf, dass in den Schulen der Putz von der Decke bröckle, dass die Bücher veraltet, der Schulbetrieb unterfinanziert sei und wir zu wenig Lehrer*innen hätten, der hält sich weitaus hartnäckiger als die jeweilige Bausubstanz. Zu ändern scheint sich aber trotzdem nichts.

Ganz fair ist diese einseitige Betrachtung der Politik freilich nicht. Erstens tu ich mich als Bürger leicht, ständig nur zu meckern und zu kritisieren, wenn ich keine tragfähigen Lösungen für die Probleme generieren muss. Lösungen, die nicht nur verfassungskonform sind, sondern eine gesellschaftliche breite Mehrheit hinter sich haben und noch dazu positive Konsequenzen für die gesellschaftliche Entwicklung. Ich als Bürger lese in der Zeitung über ein Thema, das mich aufregt, echauffiere mich in den sozialen Medien (oder beim Kaffeekranz) über die ach so unfähigen Politiker*innen und blättere auf die nächste Seite.

Man sollte aber berücksichtigen, dass wir als Bürger*innen in einem ganz anderen Zeitrahmen leben als beispielsweise Politiker*innen. Die Planung, Gestaltung, Implementierung und Umsetzung von Gesetzesvorhaben ist ein langwieriger, oftmals sehr bürokratischer Akt, der Zeit, Nerven und politisches Kapital benötigt. Je mehr Akteure an diesem Spiel beteiligt sind, und je mehr potentielle Auswirkungen ein Gesetzesvorhaben hat, desto schwieriger ist es, ein solches final auf den Weg zu bekommen. Das Ganze wird noch schwieriger, wenn die beteiligten Akteure nicht mit offenen Karten spielen und ihre ideologischen Differenzen schlussendlich über die Titelseiten der Tageszeitungen austragen. Man denke da nur an das Heizungsgesetz.

Manche politischen Veränderungen sind in der laufenden Legislatur generell nicht umsetzbar, weil die politischen Vertreter einer Idee nicht die notwendigen Mehrheiten organisieren können. Da heißt es also, das Thema langfristig in das eigene Wahlprogramm aufzunehmen und dafür bei der nächsten Wahl zu werben. Und damit ist ein Erfolg noch lange nicht garantiert, denn es gibt ja noch mehr, bisweilen komplexere Themen, bei denen man als Partei vielleicht Haltungen vertritt, die nicht notwendigerweise die Akzeptanz in der Bevölkerung treffen. Ganz abgesehen davon, dass Wünsche, Erwartungen und politische Vorstellungen manchmal durch die Notwendigkeiten der Realpolitik unterminiert werden – eine Erhöhung des Verteidigungsbudgets hatte bei der letzten Bundestagswahl garantiert niemand auf dem Schirm.

Politik braucht Zeit

Politiker*innen haben also ein bisschen damit zu kämpfen, dass sie in einer immer globaleren, immer schnelleren Welt möglichst zügig auf die Bedürfnisse und Forderungen einer schnelllebigen Gesellschaft reagieren sollen, die belastbaren Ergebnisse aber oftmals erst viel später vorweisen können, wenn das Thema längst nicht mehr interessiert. Schlimmer noch: Die Auswirkungen vieler politischer Lenkungsmaßnahmen sind oft erst sehr viel später spürbar. Politik ist wie ein gigantisches Netz, und wenn ich an einer Stelle einen Faden lockere oder festzurre, kann auf lange Sicht das ganze Gebilde instabil werden, wenn ich zu stark ziehe. Es bedarf also sanfter, vorsichtiger Korrekturen. Demokratische, pluralistische Systeme sind im Fluss, sind wackelig, organisch und beweglich, und die Kunst einer verantwortungsvollen Politik ist der Balanceakt.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Kontrollinstanz, Justizia, ein noch ganz anderes Tempo fährt. Die potentiell nachgeschaltete juristische Beurteilung der implementierten und verabschiedeten Gesetze braucht je nach Komplexität und Bedeutung noch einmal sehr viel länger. Die Veränderung des Wahlrechts beispielsweise ist ein massiver Eingriff in die grundlegende Funktionsweise der Demokratie. Die vorletzte Änderung von 2020 landete erwartungsgemäß vor den Verfassungsrichtern – die erst 2023 abschließend darüber urteilten. Vier Jahre Prüfung für ein Gesetz, das sehr direkt und sehr massiv Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestages nimmt. Warum das so ist, erschließt sich von selbst. Aber dieser Unterschied in der zeitlichen Perspektive zwischen Legislative und Judikative ist, so sehr eben vielleicht auch nachvollziehbar, im öffentlichen Diskurs wieder nur sehr schwer zu vermitteln. Auch ich selbst scheitere manchmal daran zu verstehen, wie Politiker*innen Gesetzen zustimmen können, die anschließend als verfassungswidrig einkassiert werden. Aber Politiker*innen haben nicht die gleichen zeitlichen Dimensionen zur Verfügung, sie müssen sehr viel schneller auf die realen Bedingungen im Land reagieren. Die gründliche Prüfung auf Konformität mit unseren gemeinschaftlichen Grundregeln kann dann leider erst hinterher erfolgen.

Worauf will ich mit all dem hinaus? Politik befindet sich in einem schwierigen zeitlichen Spannungsgefälle zwischen der schnelllebigen Realität des Individuums und den langsamen Mahlwerken der Justiz. Und diese Geschwindigkeitsunterschiede können leicht dafür sorgen, dass einem der politische Betrieb in Berlin als starr, unflexibel, reaktionsunfähig und inkompetent erscheint. Je schneller unsere Welt wird, je mehr großen, schmerzhaften Problemen wir uns ausgesetzt fühlen, desto offensichtlicher wird dieser Graben. Und desto stärker wird das Gefühl, „die da oben“ würden ohnehin nichts tun.

Es würde wahrscheinlich helfen, würden wir uns als demokratischer Souverän diesen Zwängen politischen Handelns wieder etwas stärker bewusst werden. Gleichzeitig müssen wir auch nach Wegen suchen, wie politische Entscheidungen schneller umgesetzt und vermittelt werden können. Wie der politische Betrieb in Berlin leichter kommunizieren kann, welche Gesetzesvorhaben aktuell bereits in Planung sind, wie der aktuelle Stand ist, wie lange es noch dauern wird, und was derzeitig die Probleme sind. Welche Möglichkeiten es gibt, diesen Prozess zu beschleunigen, ohne gleichzeitig am demokratischen Fundament der Institutionen zu rütteln.

Und über all dem muss eine ganz klare Gewissheit stehen: Auch, wenn ich den politischen Betrieb in den Parlamenten und Regierungen für unfähig, schwerfällig, inkompetent und fehlerbewährt halte, die Wahl von faschistischen Parteien ist insbesondere und vor allem in Deutschland niemals eine akzeptable Alternative. Unsere pluralistische Gesellschaft bietet mehr als genug Möglichkeiten zur individuellen politischen Partizipation – über Petitionen, Volksentscheide, juristischen Klagen, über die Mitgliedschaft in Organisationen, Vereinen, bis hin zur Mitgliedschaft oder gar Gründung von Parteien. Man mag in der Sache unterschiedlicher Meinung sein, und bisweilen sich auch hart an der Grenze dessen bewegen was gesellschaftlich noch als tragfähiger Konsens vereinbar wäre. Das gehört zum pluralistischen Diskurs dazu. Aber die offene Unterstützung einer Partei, die unverhohlen mit Methoden, Ideen und Sprache einer dunklen, verbrecherischen Vergangenheit unseres Landes wirbt, und die mangelnde Bereitschaft, dies ernsthaft zu hinterfragen und zu korrigieren, ist unentschuldbar. „Wir hatten keine andere Wahl“ ist eine Lüge, die damals so falsch war wie heute.


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