Kunstgedanken

Die meiste Zeit meines Lebens hatte ich eine eher ambivalente Haltung zur (bildenden) Kunst. Auf der einen Seite war mir immer der handwerkliche und kreative Schaffensprozess von Bildern und Plastiken bewusst, keine Frage. Aber wir kennen auch alle diese Werke aus Galerien und Museen, bei denen man vor dem Bilderrahmen steht, den Kopf schief legt, „Hmmm“ murmelt und sich denkt: „Ja, das hätte ich mit drei auch geschafft“.

Anders ausgedrückt: Für sehr viele Jahre meines Lebens blieben mir wichtige Aspekte künstlerischen Schaffens und Ausdrucks vollkommen verborgen, weil ich mich allein auf das Resultat und das dafür notwendige Fertigkeitenarsenal konzentriert habe. Eines, das mir noch dazu vollständig abgeht, weswegen ich zwar Kunst ansehen, aber nicht zwangsweise selbst produzieren kann.

Verändert haben meinen Blick auf das künstlerische Schaffen ausgerechnet moderne Künstler*innen auf TikTok, Twitch und Instagram. Die mir klar gemacht haben, dass Kunstschaffen weitaus mehr ist, als nur mit einem Pinsel vor der Leinwand zu stehen und Motive zu kreieren. Oder sagen wir eher: dass Kunst sehr viel mehr als das sein kann.

Volane

Meine Lieblingskünstlerin ist beispielsweise Volane (bzw. Maris). Volane ist ein Social Media Phänomen, auch wenn sie sich selbst wahrscheinlich nicht so sehen würde. Ihr Content besteht vor allem aus Videoformaten, in denen sie malt bzw. zeichnet; in denen sie Fragen zu sich beantwortet; in denen sie Impressionen und Gedanken aus ihrem Leben teilt; und in denen sie auf Kommentare reagiert, die hin und wieder stark frauenverachtend sind, aber das mit einem Witz und einer Scharfzüngigkeit, die man einfach nur bewundern muss. Sie ist maximal authentisch. Zumindest vermittelt sie das. Denn ich kenne sie natürlich nicht persönlich, nur ein digitales Zerrbild, zusammen geklaubt aus Dutzenden von Videobeiträgen. Aber das wahrgenommen Bild ist äußerst stimmig.

Volane malt Volanismus. Ich glaube auf Wikipedia habe irgendwann einmal gelesen, dass es eine Art moderne Streetpopart sei. Ich habe von Kunst keine Ahnung, vielleicht trifft das zu. Vor allem malt sie gerne Dinge, die alltäglich sind, in denen andere Menschen vielleicht keine Schönheit finden, sie aber schon. Eine abgerauchte Kippe in einem Aschenbecher voller Sojasauce, in das ein Stück Sushi eingetaucht wird. Zwei Mäuse, die einen Joint vernaschen (immer noch mein absolutes Lieblingsbild). Oder blutige Frauenunterwäsche an der Wäscheleine.

Jetzt würde ich mir persönlich die meisten ihrer Werke nie kaufen und an die Wand hängen. Erstens, weil mir das nötige Kleingeld dafür fehlt, denn ihre Bilder haben ihren Preis. Zurecht. Neben Material, Arbeitszeit und Fertigkeit kauft man damit eben auch einen echten Volane, und das ist ein Prädikat. Stichwort Künstlerfaktor. Auch davon hatte ich vorher noch nie gehört, aber ich finde es grandios, dass es das gibt. Zweitens entsprechen die meisten ihrer Bilder auch nicht zwangsweise meinem Stil, und die damit vermittelten Botschaften passen relativ schlecht zu mir oder meinem Haushalt.

Jetzt ist Volane aber trotzdem meine Lieblingskünstlerin. Wie passt das bitte zusammen? Ich durfte dank ihr erkennen, dass zu Kunst deutlich mehr gehört als nur das Motiv auf der Leinwand. Die Art und Weise, wie sie sich über Social Media verkauft und vermarktet. Wie viel Kunstschaffen überhaupt mit Vermarktung zu tun hat. Die Botschaft, die sie mit ihrer Art und ihrer Kunst auch sendet – sehr viel darin hat mit der Normalisierung von Dingen zu tun, die ganz normal sein müssen, etwa Regelblutungen bei der Frau, Hygieneprodukte für die Frau. Themen, bei denen viel zu vielen Männern die Schamesröte ins Gesicht steigt, wenn sie das Blut viel besser im Gehirn brauchen könnten. Wobei natürlich nicht jedes Bild direkt ein Fanal für die Enttabuisierung von Weiblichkeit ist. Manchmal ist es auch einfach nur cool. Oder wild. Aber das steckt eben auch mit drin in ihrem Schaffen und ihrem Sein. Das ist eben Volane. Und Volane offenbart sich und das, was ihr wichtig ist oder was ihr gefällt durch das, was sie malt und wie sie es verkauft. Die Kunst verschafft einen Einblick in die Persönlichkeit. Wie gesagt, der Künstlerin. Vielleicht auch des Menschen, aber das ist nicht an mir zu beurteilen.

Melke

Ein anderer Künstler, den ich über Instagram kennen gelernt habe, ist Melke. „Hallo, ich bin Künstler aus Berlin“ beginnt jedes seiner Videos, und in dem Moment weiß ich auch, dass ich das Video zu Ende schauen werde. Melke malt mit Ölfarben? Denke ich? Er hat es neulich erklärt, ich habs wieder vergessen, ich versteh davon ohnehin nichts. Nicht, weil ich zu blöd wäre. Oder weil es zu kompliziert wäre. Sondern weil ich momentan keinen Zugang dazu habe.

Melke malt… puh. Kuriose Dinge. Mal Gesichter mit ganzen vielen Tentakeln. Oder Gesichter, von denen Honig tropft. Gesichter mit viel zu vielen Augen. Generell sehr viele Frauengesichter. Neuerdings auch mal sehr viele invertierte Bilder, also so, dass sie normal aussehen, würde man ein Foto von ihnen machen und die Farbkanäle invertieren. Beeindruckend!

Am Ende eines Videos gibt es immer auch noch ein Kompliment für die Zuschauer. „Ich denke, die Arbeit hat sich gelohnt und das Bild ist schön geworden – aber natürlich nicht ganz so schön wie du!“ Was für ein einmaliges, aber auch mehr als liebenswürdiges Markenzeichen. Es funktioniert. Ich fühle mich danach besser und freue mich auf das nächste Video.

Würde ich mir ein Bild von Melke kaufen? Vielleicht, aber tendenziell eher nicht. Schlicht, weil ich mit der Motivik wenig anfangen kann. Aber ich liebe ihn als Künstler. Ich liebe seine Stimme, wie er von seiner Kunst erzählt. Wie viel Liebe und vor allem Arbeit er in die Videos steckt. Und in seine Kunst. Und es macht mich glücklich, wenn er erzählt, dass er glücklicherweise von seiner Kunst leben kann. Er erzählt gar nicht so viel aus seinem „echten Leben“, ich weiß nichts über den Melke außerhalb des Ateliers. Aber ich habe ein Gefühl für den Melke vor der Leinwand. Und das gefällt mir.

Kunst als Entwicklung

Eine private Freundin von mir hat auch vor einiger Zeit zu malen angefangen. Ich gehe hier nicht so ins Detail, weil ich nicht möchte, dass ihr das zu cringe wird, sollte sie es jemals lesen. Aber ich bin jeden Tag aufs Neue schwer beeindruckt, mit welcher Begeisterung und Durchhaltekraft sie dieses inzwischen nicht mehr ganz so neue Hobby angeht, welche neuen Projekte und Ideen sie entwickelt, mit welchen Farben und Materialien sie experimentiert, auf der Suche nach dem richtigen Stil und der richtigen Ausdrucksform für sich selbst. Und wie sehr sie sich in dieser Zeit tatsächlich auch entwickelt hat.

Und das finde ich auch deshalb beachtlich, weil dadurch eben mehr zum Vorschein kommt als nur die handwerkliche Verbesserung, wenn man nur lange genug übt. Sondern es ist eben auch ein Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Nicht nur die Motive. Oder das Werkzeug. Sondern auch, wie man diese Leidenschaft angeht. Welche Passion man dabei auch versprüht. Auch das sind Aspekte von Kunst. Aspekte, die man dem finalen Bild vielleicht nicht mehr zwangsläufig entnehmen kann. Aber die wichtiger Teil des Schaffensprozesses sind. Wichtiger Teil der Entwicklung als Kunstschaffende*r. Und in einer multimedialen, digitalen Social Media Welt auch essenzieller Teil einer Selbstvermarktung.

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