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Es war ein kalter, regnerischer Novembertag, die schweren Wassertropfen prasselten geräuschvoll auf den harten, grauen Betonboden der Stadt. Allein die Wasserpfützen, die sich rasch mal hier, mal dort gebildet hatten, tauchten die sonst farblose Umgebung der pflanzlosen Steinwüsten in eine schimmernde, fast schon mystische Atmosphäre, spiegelten das Licht zahlloser Lampen, Laternen und Ladenbeleuchtungen.

Nachdenklich hielt Luke inne und das leise Klackern der Tastatur, auf der er bis gerade noch geschrieben hatte, hallte dumpf in seinem Kopf nach, bis es sich mit seinen Gedanken vermengte und langsam verflüchtigte. Ein kalter, regnerischer Novembertag? Jemand sollte eine Studie dazu anfertigen, wie viele Geschichten mit Wetterbeschreibungen begonnen wurden. Leicht verärgert schüttelte er den Kopf, löschte die bisherigen Zeilen und starrte sinnierend auf das nun wieder völlig leere, weiße Dokument.

Zwei kurze Vibrationen rissen ihn aus seinen Gedanken, die erste vom anderen Ende des Zimmers, die andere direkt an seinem Handgelenk. Eine Spur zu schnell, eine Spur zu erwartungsvoll drehte er die Hand in einer schwungvollen Bewegung. Seine neue Armbanduhr mochte zwar „smart“ sein, aber sie brauchte immer noch eine gesonderte kinetische Aufforderung, um ihm die neuesten Mitteilungen anzuzeigen. Ein kleines rotes Symbol. Der Text dahinter interessierte ihn schon gar nicht mehr. Wieder ein unwichtiger, unlustiger Beitrag auf Reddit. Er hätte die Benachrichtigungen längst abgestellt, wenn ihn das nicht mehr als zwei Handgriffe gekostet hätte.

Luke ließ die Hand sinken und stierte wieder auf den Bildschirm vor sich. Erst nach einer ganzen Weile dämmerte ihm, dass sich zu der großen, weiten Leere fehlender Formulierungen und Ideen ein neues, nagendes Gefühl gesellt hatte. Enttäuschung. Und jetzt, da ihm dieses Gefühl bewusst geworden war, drängelte es sich mit kraftvoller Impertinenz in den Vordergrund, sprang und hüpfte und wedelte mit beiden Armen vor seinem Gesicht und rief „Beachte mich! Du weißt, dass ich da bin! Ich bin es, dein alter Freund!“

Mit einem leisen Winseln ließ Luke den Kopf in beide Arme und auf den Tisch fallen. War das nötig? Er hatte es gerade geschafft gehabt, sich auf etwas zu konzentrieren, sich zu fokussieren. Sich neu zu ordnen. Und mit einem Mal war alles wieder da. Der leise Funken Hoffnung. Die freudige Erwartung. Die Enttäuschung. Die Demütigung. Und all das in einem Bruchteil einer Sekunde. Ein Spielfilm, den er sich, so schlecht er ihn auch fand, inzwischen mehrfach stündlich anschaute. Der Film wurde dadurch nicht besser.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Gefühlssturm in seinem Kopf wieder halbwegs gelegt hatte und er einzelne Gedankenfetzen greifen konnte. Die ganze Situation war so unfassbar dämlich. Luke legte den Kopf ein wenig schief, zog die Nase hoch und wiederholte den immer gleichen und längst verinnerlichten Gedanken zum tausendsten Male.

Er war ein Nervenbündel. Weil er unbewusst und bewusst auf die Nachricht eines Menschen wartete, der ihm wichtig war. Der ihm viel bedeutete. Keine bestimmte Nachricht, kein lebensumstürzendes Fanal an Gefühlsduselei oder unerschütterlicher Zuneigung. Ein… Lebenszeichen? Ein kleiner gedanklicher Stubs? Allein, er wartete vergeblich, seit Stunden und Tagen. Jedes Vibrieren des Handys verhieß „Das könnte er sein!“, doch er war es nicht, und Luke hatte gelernt, inzwischen all die nutzlosen Apps auf seinem Telefon zu hassen, die ihm wertlose Nachrichten, Emails und Handlungsaufforderungen schickten, für die er sich aktuell einfach nicht interessierte. Weil er sich für gar nichts mehr interessierte. Weil sein Kopf einfach blockiert war.

Und dann fing der Unsinn erst richtig an. Enttäuschte und völlig haltlose Schuldzuweisungen, direkt gefolgt von der umgekehrten Inschutznahme. Endlose Fragen nach dem Warum und Wieso und Weshalb, egal wie profan und banal die Antworten auch sein mögen, egal wie falsch die Fragen an sich schon sind. Irgendwann die Umkehr, die Selbsterkenntnis, wie absurd all diese Gedanken waren. Eine Erkenntnis, die direkt in Scham und ein Gefühl von Demütigung führt. Mehrere Minuten lang fühlte sich Luke wie gefangen in diesem schier endlosen Strudel aus Emotionen und Gedanken, bis jeder Gedanke zehnmal gedacht, zehnmal neu formuliert, und zehnmal widerlegt worden war. Es war alles dazu gedacht worden, zum wiederholten Male, und er war müde. Sein Kopf sank noch etwas tiefer in seine Arme. Er zog die Nase hoch.

Aber das Problem saß natürlich viel tiefer. Die Fragen, die er sich in Wirklichkeit stellte, waren ganz andere. Manchmal traute er sich, sie offen zu stellen. Sich selbst. Oder Freunden. Aber diese Fragen, sie klangen so absurd, so bizarr und an den Haaren herbei gezogen, sie mussten blanke Polemik sein. Eine komödiantische Replik auf das Leben, um mit all den Widrigkeiten, die selbiges zu bieten hat, irgendwie klarkommen zu können. Warum war er nicht genug? Wieso schien ihn niemand zu sehen? Weshalb fühlte es sich immer so an, als sei er eine Belastung für andere, egal wie viel oder wenig er tat? Was war so fundamental falsch an ihm? Und Luke wusste, so einfach die Antworten auf all das für alle anderen sein mochten, so schwer fielen sie ihm selbst.

Ein tiefer Seufzer. Beinahe widerwillig setzte er sich wieder auf, wischte sich mit dem Handballen über das Gesicht, hielt kurz inne und atmete dann entschlossen durch. Er würde nicht aufgeben, und er würde sich vor allem nicht diesem emotionalen Sturm ergeben, der ihn aus der Bahn zu werfen drohte. Seine Augen tasteten über den Schreibtisch, die Tastatur, sein Blick kletterte wieder am Bildschirm empor und las die wenigen Worte, die er bislang zu einer provisorischen Überschrift seines Textes getippt hatte. Mit einem leisen Klackern der Tastatur versuchte er es erneut.

Stunden später vibrierte es. Zweimal, einmal auf der anderen Seite des Zimmers, einmal an seinem Handgelenk. Luke erkannte, dass sich die Vibration diesmal anders anfühlte. Länger, beständiger, nicht das kurze Vibrieren einer unwichtigen Meldung. Er hielt sich nicht mit seiner Armbanduhr auf, er stand umgehend auf und suchte nach seinem Telefon. Fand es. Schaltete es an. Eine Benachrichtigung leuchtete ihm entgegen. Diesmal war es kein rotes Symbol. Diesmal las er die Worte. „Hallo, endlich habe ich ein bisschen Zeit. Wie geht es dir? 😀“ Und mit einem Mal waren all die Stürme, all das laute Tosen vergessen. Und die Sonne strahlte warm und hell an diesem kalten, regnerischen Novembertag.

Herzblut

Ein plötzlicher Windstoß drückt die Holztür auf und schmettert sie krachend gegen die steinerne Wand. Der Lufthauch wirbelt durch das Gemäuer und die Flammen der Kerzenhalter an den Wänden biegen sich unter dem Eindruck der unsichtbaren Kraft von außen. Das flackernde Licht verleiht dem ansonsten fast stockdunklen Raum eine noch gespenstischere Atmosphäre. Fast schreckhaft gleitet es über die Wände hinweg, berührt güldene Rahmen und matte, in dunkle Farben gegossene Leinwände.

In der Mitte des Raumes steht die Staffelei. Ein großer, ambitionierter Holzrahmen ist darauf montiert, frisch bespannt mit einem nahezu weißen, groben Stoff. Kritisch blickt ein junger Mann auf sein Machwerk. Die einstmals freie Fläche ist nun getränkt in die Farben und Formen seiner Gedankenwelt. Ein wildes, obskures Spiel aus Landschaft und Abstraktion. Ist es eine blühende Landschaft in einer stürmischen Herbstnacht? Oder das Ende der Welt? Sind es die Wellen einer ozeanischen Reise, die das Schiff zum Kentern bringen? Künden dort die Sterne von einem Pfad zurück in die Heimat, oder sind es die Seelen derer, die keinen Weg zu finden mehr vermochten?

Mit Nachdruck presst der Künstler seinen Pinsel in die Farbe. Nein, noch entspricht das Bild nicht dem, was ihm versprochen wurde. Er fühlt nicht, was er dort auf dem Rahmen sieht, nicht in der Weise, wie er es in sich trägt. Nein, es muss anders werden. Beiläufig richtet er die Kappe, die bislang schief auf seinen Haaren hing und ihm zu Boden zu gleiten drohte, wieder zurecht. Sein lockeres, weißes Gewand trieft vor bunten Klecksen und Farben, alle wild durcheinander, die ihn selbst zu einem Kunstwerk werden lassen. Allein, ihn stört all dies nicht.

Kaum, dass der Wind nachgelassen hat, fällt die hölzerne Tür wieder ins Schloss und das Lichtermeer beruhigt sich. Die Porträts an den Wänden beobachten das künstlerische Schaffen nun wieder so, wie er es gewohnt ist. Aus dem Dunklen. Sie sehen ihn, doch er sieht sie nicht. Er sieht sie anders. Er sieht sie, wie sie wirklich sind, er braucht sie nicht mit seinen Augen zu sehen. Sie lenken ihn nur ab. Energisch schüttelt er den Kopf. „Genug!“, ruft er, zu sich selbst? Zu seinen stillen, stummen und doch so präsenten Gästen? Der Pinsel berührt mit einem sanften Schmatzen die Leinwand. Ein kräftiger Strich, eine Rundung, eine abrupte Drehung. Ja. Das fehlt dem Bild, wie hat er das bisher nicht sehen können?

Erfüllt von ekstatischer Freude über seinen Fund legt er die Farbpalette ab, den Pinsel daneben, greift nach den Farben. Dies würde sein Meisterwerk werden, daran bestand kein Zweifel. Dies würde das Werk werden, mit dem er endgültig nicht nur die Gunst seines Meisters, sondern die der ganzen Kunstwelt, der Höfe, der Könige und Reichen erlangen würde. Dies würde die Offenbarung seiner Seele werden. Ein erratisches Glucksen entringt seiner Kehle, während er einen Farbeimer nach dem anderen öffnet und Farbe auf der Palette verteilt. All die Jahre des mühvollen Schuftens, in denen er nichts anderes tat, als mit seinem Können, seinem Talent einem anderen zuzuarbeiten! Welch Schmach, welch schändliche Vergeudung seiner von Gott gegebenen Fertigkeit! Es schmatzt laut, als der Pinsel erneut in die Farbe eintaucht. Mit wilden Bewegungen vermengt er die Rohtöne miteinander, um daraus sein finales Werk zu schaffen. Sein Blick ruht starr auf der Leinwand. Auf seiner Zukunft. Seiner Legende. Seinem Nachlass.

Er blickt nicht einmal auf die Palette, als er die fertige Farbe aufnimmt, den Pinsel, einst unschuldig und leer, frei all das Material zu tragen, was Kunst zu schaffen vermag, in eine viskose, dicke Masse tränkt. Ja, er sieht es direkt vor sich. Es ist ganz klar, wie er sein Werk zu vollenden hat. Ein wilder, ungezwungener, kraftvoller Strich über die Leinwand. Ein zweiter. Mehr Farbe. Es braucht mehr Substanz. Wieder und wieder benetzt er das grobe Leinengewebe mit einer dicken Farbschicht. Er lacht. Nicht wirr, nicht klar. Befreit. Er fühlt, was er sieht, und er sieht, was er fühlt. Im Halbdunkel der wenigen Kerzen, die das Atelier erleuchten, taucht er das Kunstwerk in einen breiten, rostigen Glanz aus Braun, gleich dem Ton getrockneten Blutes.

Als sich die Tür in das Atelier das nächste Mal öffnet, ist es still. Das warme, freudenspendende Sonnenlicht eines güldenen Morgens dringt durch den Torbogen in den Raum. Kein Wind, kein Sturm geht mehr, nur das leise Geräusch einer geschäftigen, lebendigen Stadt dringt aus der Ferne bis in den Raum. Mit einem wohligen Seufzer eines Mannes, der nach einer viel zu langen und unruhigen Nacht wieder zurück nach Hause kommt, betritt der Meister seine Werkstatt. „Julio?“, ruft er, während er seinen Mantel aufhängt. „Carlos?“ Schweigen. „Anita? Lesbos? Crania?“ Wo steckten sie nur. Seine Lehrlinge hätten längst hier sein sollen, doch weder geschäftige Triebsamkeit noch das übliche lästerliche Geschnatter der jungen Auszubildenden war in dem immer noch reichlich dunklen Gemäuer zu vernehmen.

Als sich der Künstler endlich dem Raum zuwendet, schweift sein Blick über die Gemälde an der Wand. Schwach nur werden sie von den immer noch brennenden Kerzen erhellt, und lediglich der schwache Widerschein des Sonnenlichts von draußen erlaubt ihm, sie beinahe zu erkennen. Sie sind nicht, wie er sie in Erinnerung hatte. Mit gerunzelter Stirn tritt er näher. Der Morgenschein. Das Abendrot. Die Kreuzkapelle. Das Winterbad. All die Bilder, sie sehen… anders aus. Als er nah genug ist, die Bilder auch im Dunkel zu erkennen, schlägt er voller Entsetzen die Hände vor den Mund.

Keines der Bilder ist, wie er es in Erinnerung hat. Nicht der güldene Morgenschein auf einem Weizenfeld lacht ihm entgegen. Nicht das glänzende Abendrot auf dem Wasser spiegelt ihn an. Sie sind verdeckt, begraben unter einer dichten Schicht aus rostig brauner Farbe. Und darauf – schmerzverzerrte Gesichter. Gesichter, so fein, so ziseliert gemalt, mit unfassbarer Präzision und dem Blick für selbst das kleinste Detail. Es sind die Gesichter seiner Lehrlinge. Sie flehen, sie betteln, sie rufen, sie schreien, und der Schmerz, die Pein, die Verzweiflung steht in ihre nackten Augen geschrieben. Dem, was davon noch übrig ist. Jedes einzelne der Bilder ist zerfetzt, zerschnitten, als hätte jemand mit einem Messer darauf eingehackt.

Der Meister atmet schwer. Ein Muskel zieht an seiner linken Seite, die Gedanken rasen ihm. Er dreht sich um. Eine dunkle Vorahnung ereilt ihn noch in der Bewegung, der er sich nicht erwehren kann. „Julio… was hast du getan?“, murmelt er. Dann fällt sein Blick in die Mitte des Raums. Dort steht die Staffelei. Ein großer, ambitionierter Holzrahmen ist darauf montiert, überzogen mit einer frischen Leinwand. Dunkle Farben lassen ein wildes, emotionsvolles Bild darauf erkennen, ertränkt durch den matten Glanz rostroten Blutes. Darauf ein Gesicht. Julio. Er lacht und schreit, gefangen in einer ekstatischen Mischung aus Begeisterung und ewigem Schmerz. Gefangen für die Ewigkeit.

Mit einem leisen Knall fällt die Holztür wieder ins Schloss.

Anmerkung

Vor mehr als 10 Jahren habe ich diese Geschichte in ähnlicher Form schon einmal auf meinem Blog verfasst und veröffentlicht. Damals gefielen mir das Setting und die Idee wahnsinnig gut. Leider ist der Text im Zuge eines Webseiten-Relaunch abhanden gekommen, doch die Idee dahinter habe ich bis heute nicht vergessen – und jetzt beschlossen, sie in neuen Worten, mit mehr als zehn Jahren Lebenserfahrung mehr, erneut auf digitales Papier zu bringen. Ganz gleich, was man also in die Geschichte interpretieren mag: Vor allem ist sie für mich die Umsetzung eines Vorhabens, das ich seit mehr als zehn Jahren aufgeschoben habe.