Von starken Frauen

Kürzlich hatte ich das große Vergnügen, auf Twitch einem Koch- und Backstream der Streamerin Shurjoka zusammen mit deren bester Freundin beizuwohnen. Vegane Zimtschnecken sollte es geben. Im Verlauf des Abends nahm die Unterhaltung der beiden aber eine unerwartete Wendung: Sie kamen auf Frauenrechte, sexuelle Übergriffe und versuchte Vergewaltigungen sowie die Situation von Streamerinnen und all das zu sprechen, was man als Frau täglich erdulden muss. Ein extrem wichtiges Thema, das mich in seiner Brisanz, seiner Härte und auch der Darbietungsform sehr bewegt hat. Ein paar Gedanken dazu.

Ich erzähl dir jetzt mal, was war

Sexualität ist eine maximal intime, persönliche Angelegenheit. Zumindest solange man nicht selbst beschließt, daraus eine öffentliche Sache zu machen, was natürlich jedem frei steht. Sexualität umfasst dabei deutlich mehr als nur die Frage, mit wem ich letzte Nacht ins Bett gesprungen bin. Sexualität hat etwas mit Wünschen, mit Neigungen, mit (Selbst-)Empfindungen zu tun. Und damit hat Sexualität auch sehr viel mit der Würde eines Menschen zu tun.

Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass eben dieser höchst intime Aspekt einer Person zugleich auch ein mächtiges Einfallstor für all jene bietet, die Übles im Schilde führen. Die sich überlegen fühlen und das demonstrieren möchten. Dass es zahlreich sexuelle Gewalt gibt, daran ist nicht zu rütteln. Im Gegenteil, es ist vielmehr schockierend und erschreckend, wie häufig Gewalt auf sexueller Ebene geschieht. Denn schließlich reden wir hier nicht von ein oder zwei Vorfällen, die jemand im Leben zu erdulden hätte. Das wäre schon schlimm genug. Sondern vielmehr von wöchentlichen wenn nicht gar täglichen Übergriffen auf eine der Kernkomponenten persönlichen Daseins.

Das hat natürlich auch viel damit zu tun, wie man Gewalt definiert. In althergebrachter Weise verstehen manche Menschen darunter vielleicht immer noch körperliche Gewalt verbunden mit körperlichen Verletzungen, die in Zusammenhang mit einer sexualisierten Tat stehen. Aber Gewalt kann durchaus auch verbal oder symbolisch verübt werden. Der verbale Angriff auf die intimste Sphäre eines Menschen ist unter Umständen ein brutaler Akt, der diesen Menschen nachhaltig schädigen kann und sich vielleicht schlimmer auswirkt als es eine physische Verletzung je vermag.

Umso mehr ist es beachtenswert, wenn zwei junge Frauen sich in einem von jungen Männern (noch) dominierten Medium wie Twitch so offen präsentieren, dass sie von ihren eigenen Haltungen, Erfahrungen und Erlebnissen berichten. Denn Übergriffe in den intimen Bereich des Selbst führen häufig zu einer tiefen Scham, sich darüber anderen Menschen gegenüber zu öffnen. Obgleich die Opfer nie Verursacher, nie schuldig an diesen Taten sind. Eine gefährliche interne Umkehr von Opfern und Tätern. Gefährlich für das Opfer und die Gesellschaft.

Dabei gibt es kaum etwas, das härter den Dolch der Erkenntnis in den Unwissenden oder Ungläubigen zu stoßen weiß als Berichte aus der Realität. Wenn also eine junge Frau erzählt, dass sie kaum eine Straße entlang gehen kann, ohne dass ihr ein Mann nachpfeift. Wenn sie als Streamerin erzählt, dass sie grundsätzlich die Kamera ausschaltet, ehe sie aus ihrem Stuhl aufsteht, weil sonst dutzende Clips von diversen ihrer Körperteile entstehen. Wenn sie berichtet, dass nach einem barfüßigen Stream dutzendfach Clips ihrer nackten Füße entstehen mit eindeutig sexualisierendem Kontext. Wenn sie dann auch erzählt, dass sie sich nachts nicht auf die Straße traut, oder dass sie auch schon fast vergewaltigt worden wäre – dann sind das Geschichten, Erlebnisse, Erfahrungen, die ich mit einer schockierten, erschrockenen Fassungslosigkeit wahrnehme. Weil es manchmal Dinge gibt, die ich wirklich nicht begreifen kann.

Der weiße alte cis-hetero-Mann als statistische Größe

Es mag dabei nicht überraschen, dass in solchen Geschichten, wenn sie denn überhaupt von Frauen erzählt werden – und wenigstens den Statistiken zufolge dürften die meisten Frauen in ihrem Leben zu Betroffenen werden – zumeist Männer die Täter sind. Genauer gesagt: weiße heterosexuelle cis-Männer mittleren bis gehobenen Alters. Ein Bild, das inzwischen in vielen Diskussionen zu allerlei gesellschaftlich problematischen Entwicklungen und Erfahrungen führt.

Was dabei gerne vergessen wird, das hat Shurjoka sehr gut ausgedrückt: Es ist keineswegs so, dass diese Markierung pauschal alle weißen, heterosexuellen cis-Männer vorverurteilen möchte – ein Vorwurf, der als Gegenreaktion gerne als erstes vorgebracht wird. Vielmehr handelt es sich bei dieser Beschreibung um eine statistische Persönlichkeit, also eine Repräsentation der Personengruppe, aus der solche Übergrifflichkeiten und Gewalttaten zumeist feststellbar sind oder erwartet werden. Natürlich gibt es auch weiße heterosexuelle cis-Männer, die vollkommen in Ordnung sind und sich tadellos verhalten. Man möchte eigentlich meinen, es sollte die überwiegende Mehrheit sein. Aber was ändert das an der Realität?

In diesem Zusammenhang fand ich einen Thread auf Twitter sehr erhellend, den ich vor einigen Tagen gelesen habe. Eine Servicefachkraft beschrieb darin ihren Arbeitsalltag. Welchen Stress es auslöst, wenn da ein Kunde ist, der ihre höfliche und professionelle Freundlichkeit am Arbeitsplatz fälschlicherweise für Avancen hält und daraufhin intensiv und ausdauernd mit ihr zu flirten versucht. Der sie jedes Mal angeht wenn er den Laden besucht. Dass Kolleginnen untereinander Codewörter und Strategien entwickeln, um den individuellen Häschern entgehen zu können. Was genau hilft es in einer Situation, wenn sich bei einer Kundschaft von sagen wir 40 Männern „nur“ ein einziger so verhält? Vor allem, wenn der die Kellnerin bedrängt und alle anderen 39 bekommen es nicht mit oder reagieren nicht?

Insofern ist die Behauptung, es seien ja „nicht alle Männer“ sexuelle Straftäter und übergriffig, einerseits natürlich richtig. Aber eben gleichzeitig auch völlig belanglos. Eine Straftat wird nicht besser dadurch, dass sie nicht von allen Individuen begangen wird. Oder anders ausgedrückt: Es ist ziemlich egal, ob ich von einem Passanten oder von allen Passanten auf der Straße erstochen werde, tot bin ich am Ende so oder so.

Reaktionen aus der Hölle

Man braucht aber nicht glauben, dass dieser beliebte „nicht alle Männer“ Topos die einzige grauenhafte Reaktion auf solchen real talk wäre. Mit viel Interesse habe ich neben dem Stream auch den zugehörigen Chatverlauf verfolgt. Ein stressiges Unterfangen, denn am „spannendsten“ sind darin ja gerade jene Wortbeiträge, die von den klugen und zuverlässigen Moderatoren umgehend ausgeblendet werden. Es bleibt also nur wenig Zeit zu verstehen, was da geschrieben wird. Ich denke aber, genau das ist wichtig zu lesen (wenn man es sich denn antun möchte), denn es offenbart ein sehr merkwürdiges Verständnis, das insbesondere Männer in solche Debatten mitbringen.

Da sitzen also zwei junge Frauen vor einem laufenden Ofen, warten auf die zu backenden Zimtschnecken und erzählen von Übergriffen auf ihre Person. „hey girls, chillt mal ein bisschen, es gibt echt Wichtigeres“ ploppt dann im Chat auf. Was entgegnet man auf sowas? Eine Streamerin beschließt in ihrem eigenen (!) Stream, dass sie über eine versuchte Vergewaltigung sprechen möchte, die sie glücklicherweise nicht erleben musste, aber das soll sie doch bitte verschweigen weil es „gäbe Wichtigeres“?

An anderer Stelle wird den beiden vorgeworfen, sie würden üble „Hetze gegen Männer“ betreiben. Das geht in die Richtung des obigen Arguments, dass Männer überwiegend ja total nett und harmlos seien. Als hätten die beiden im Stream jemals behauptet, dass alle Männer üble Straftäter und Schweine seien. Wenn man sich als rechtschaffener Mann allerdings unwohl damit fühlt, zumindest einem gewissen unterschwelligen Generalverdacht ausgesetzt zu sein, dann darf man sich im Umkehrschluss wohl auch fragen, wie es für Frauen sein muss, sich permanent sexualisiert zu fühlen? Die richtige Reaktion wäre dann also doch wohl nicht, den Frauen vorzuschreiben, künftig nicht mehr über ihre Probleme zu sprechen. Sondern im Gegenteil eher, darüber nachzudenken und dann mitzuhelfen, diesen Missstand zu beseitigen.

Ich weiß ja schon gar nicht mehr, ob ich im Club noch mit einer flirten darf oder ob die mich dann gleich anzeigt“ ist auch so eine Äußerung, die zwar nicht konkret in diesem Chat fiel, aber die man gerne in diesem Zusammenhang liest und hört. Was für den Sprecher vielleicht wie ein gelungenes Totschlagargument klingt, offenbart vor allem seine geistige Unbeholfenheit. Als würde irgendeine Frau jemals hergehen und jemanden für einen harmlosen Spruch in der Disko vor Gericht zerren, nur weil sie nicht an ihm interessiert war. Es fehlt solchen Männern leider vollständig an der notwendigen geistigen Reife – und auch am gesunden Menschenverstand – um eine Unterscheidung zwischen Flirt und Übergrifflichkeit festzumachen.

Ähnliches kann man durchaus auch im Onlinedating feststellen (schwule Männer verhalten sich im Gros leider auch nicht anders), wo aufgrund räumlicher und persönlicher Distanz schlechtes Betragen ja noch viel einfacher durchzusetzen ist. Vermutlich könnte ich ein ganzes Buch füllen mit Erlebnissen, die – würde man sie auf eine physische Begegnung in einer Bar oder einem Club übertragen – mehr als bizarr wirken würden. Ich spreche dabei nicht mal vom beliebten Dickpic, das einem ungefragt zugesendet wird. Welcher Wildfremde mit halbwegs normalem Betragen geht in der Öffentlichkeit auf jemand anderen zu und fragt ihn: „Willst du mir mal so richtig einen blasen?“ Wohlgemerkt, ohne ein einleitendes „Hallo“ oder Ähnliches. Ich weiß nicht, wie hoch die Erfolgsquote dieses Spruchs ist, aber über den Sprecher sagt er jede Menge aus.

Etwas absurd fand ich – jetzt wieder mit Bezug auf den Stream und den Chat – jemanden, der wenigstens eigener Aussage nach den Stream gerade erst betreten hatte. „Du bist einfach nur wunderschön!“ schreibt er, während sie gerade davon spricht, dass sie von Männern in einer Tour unangebrachte Avancen bekommt. Besser hätte er es nicht treffen können. Als sie ihn demzufolge herauspickt und im Chat rüffelt, verteidigt er sich – er sei doch gerade erst gekommen, er habe das doch nur nett gemeint. Er betritt den Stream also und noch bevor er zwei Minuten Zeit hat, das laufende Gespräch mitzuverfolgen, sieht er sich schon genötigt, der weiblichen Streamerin eine Bewertung ihres Äußeren zu schenken. Nicht, dass prinzipiell etwas gegen Komplimente spräche, auch mit Bezug auf das Äußere. Aber wie in so vielen Dingen kommt es auf Wortwahl und den Moment an.

Klare Sache, dass sich die Alpharüden des Chats direkt im Anschluss auch miteinander verbünden. „Das geht jetzt schon ne ganze Weile so, voll krass was die da abziehen!“ und „ich hab vorher auch für nichts richtig einen dranbekommen!!“ – man bestätigt sich gegenseitig also darin, dass man eigentlich nichts falsch gemacht hat, sondern natürlich die Streamerinnen völlig überreagieren. Recht viel offensichtlicher kann man kaum machen, dass man nicht nur nicht verstanden hat, worum es im Stream gerade ging. Sondern dass man auch gar kein Interesse daran hat, den Streamerinnen auch nur ansatzweise Respekt entgegen zu bringen. Erneut: Die Täter, öffentlich auf ihr Fehlverhalten hingewiesen, stilisieren sich zu Opfern. Vermutlich lebt es sich so mit dem eigenen Charakter besser.

Doch wie dann reagieren?

Jetzt kann man natürlich in aller Ausführlichkeit solches Fehlverhalten plakativ demonstrieren und anschließend zerlegen. Da es sich ohnehin immer um die gleichen Sprüche, die gleichen Aussagen und die gleichen Fehler handelt hat man das passende Handwerkszeug recht schnell beisammen. Die Kernfragen sind damit aber leider noch nicht beantwortet: Wie löst man dieses Problem? Wie kann man an diesen verachtenswerten Zuständen etwas ändern?

Selbstverständlich kann ich die Lösung hier nicht aufbieten. Einmal, weil ich selbst – wenigstens in diesem Fall – nicht betroffen bin. Es ist bei einer so heterogenen Gruppe wie allen Frauen ohnehin schwierig bis unmöglich, ein richtiges Ergebnis zu definieren. Zum anderen aber auch, weil wiederum die Menge der Täter und der Taten sehr verschieden ist.

Ich für mich persönlich kann feststellen, dass mich genau solche Erzählungen von privaten Schicksalen immer sehr mitnehmen und zum Nachdenken anregen. Natürlich kann ich die Schrecklichkeit von Statistiken, von Prozentzahlen und absoluten Fällen irgendwie nachvollziehen. Aber das konkrete Einzelschicksal, der konkrete Vorfall hat eine andere, eine emotionalere Wirkung. Das müssen keine schlimmstmöglichen Fälle sein. Eine Aneinanderreihung von entwürdigenden Äußerungen und Vorfällen ist bereits wie ein harter Hammerschlag. Für mich zumindest. Aber ich bin mir relativ sicher, dass meine Empfindungsgrenze hier ganz anders liegt als bei vielen Männern, die dafür keinerlei Verständnis mitbringen.

Es wird auch immer Menschen geben, die in solchem Verhalten nichts Negatives zu erkennen vermögen. Es gibt vermutlich keinen Diskurs und kein Konfliktfeld in dem nicht irgendjemand untragbare Extrempositionen einnimmt und für sich selbst in Anspruch nimmt, wahrhaftiger als die Wahrheit zu sein. Übrigens gibt es auch im oben beschriebenen Diskurs unweigerlich die Fälle – auch in genau diesem Chat – die es schaffen, aus einer Diskussion um die Behandlung von Frauen eine Hasstirade gegen fremde Kulturen zu machen. Es muss sicherlich das hehre Ziel einer Gesellschaft sein, solche Meinungen zu bezwingen. Das kann in einer Demokratie natürlich nicht mit Unterdrückung und Beseitigung solcher Stimmen geschehen. Also durchaus mit Beseitigung aus einem solchen Stream und Chat, jedoch nicht aus der Gesellschaft selbst. Wohl aber mit einem starken und vehementen Auftreten einer sozialen Mehrheit, die solchen Gedankenspielen keinen Raum zur Verbreitung bietet. Weswegen es auch so wichtig ist, geschehenes wie geschehendes Unrecht nicht zu verschweigen und „Wichtigeres“ zu behandeln, sondern den Finger genau in die Wunde zu legen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die zu richten, die sich falsch verhalten und nicht bereit sind, diese Fehler zu korrigieren.

Die emotionale Stärke, die Ehrlichkeit, die Offenheit dieses Gesprächs – aber auch die teils widerlichen Reaktionen einiger weniger (!) Zuhörer im Chat – zeigen, wie schwierig es für Frauen in der Öffentlichkeit immer noch ist. Man kann sich gegenseitig auf die Schulter klopfen und betonen, wie viel gerechter es heute doch zugeht als noch vor 15 oder 20 Jahren. Das heißt aber nicht, dass wir am Ende dieser Reise angekommen sind. Das Ziel muss nicht nur Gleichberechtigung in allen Dingen sein. Sondern auch das gleiche Recht aller darauf, im eigenen Leben nicht unangemessen tangiert und in der eigenen Würde verletzt zu werden. Zwischen der verfassungsrechtlichen Selbstverständlichkeit und der Alltagswirklichkeit bestehen noch immer erhebliche Unterschiede. Und wie überwindet man sicherlich nicht, in dem man sich nicht klar positioniert und Haltung zeigt.

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