Demokratische Kommunikation

Beim Lesen der Nachrichten heute Morgen bin ich unter anderem über die Proteste in Ungarn gestolpert, wo mehrere zehntausend Menschen gegen das zunehmend autoritäre System von Viktor Orbán protestiert haben. Auf Mastodon zeigte sich jemand euphorisch angesichts dieser Entwicklung – das sei ein Indiz dafür, dass die Menschen vielleicht langsam anfingen, den nationalistischen, rechten Dreck aus ihren Köpfen zu beseitigen. Ich bin nicht sicher, ob ich so optimistisch sein möchte. Aber zumindest veranlasste mich dieser Gedanke zu einer (erneuten) Überlegung hinsichtlich der kommunikativen Asymmetrie zwischen demokratischen und autoritären Systemen.

Westliche Demokratien kommen mir heutigentags manchmal ein bisschen wie hochseetaugliche Schiffe vor, die unverhofft in stürmische Gewässer geraten sind. Eigentlich hat man ein sehr stabiles, technisch gut aufgerüstetes und verlässliches Vehikel unter sich, dem man in normalen Zeiten fraglos sein eigenes Leben anvertraut. Dazu gehört auch der Kapitän, der obligatorisch seine Befehle ruft, den Kurs absteckt und nach Problemen Ausschau hält.

Gerät das Schiff samt Besatzung mit einem Mal in eine angespannte Seelage, so möchte man meinen, dass die Crew darauf bestens vorbereitet sei. Ich bin kein Seemann, insofern weiß ich nicht, wie man auf einen Sturm angemessen reagieren würde. Das Material vertauen? Das Schiff sichern? Etwaige Schäden flicken, um ein Auseinanderbrechen des Schiffes zu verhindern? Dafür sorgen, dass niemand an der Reling steht und die Seeluft genießt während eine hochhausgroße Welle über das Deck hereinbricht? Vielleicht habe ich zu viele schlechte Piratenfilme gesehen.

Unsere demokratischen Schiffe funktionieren hingegen anders. Erst einmal ignoriert man den Sturm, der sich schon am Horizont ankündigt, vollständig. Bricht er dann – völlig überraschend! – doch über uns herein, rennen wir panisch durch die Gegend. Dem Kapitän, der uns bislang immer zuverlässig und sicher geführt hat, werfen wir nun vor, dass sein gesamter bisheriger Kurs nur dazu gedacht war, uns hier in den Tod zu führen. Wir werfen ihn über Bord und vertrauen das Heft stattdessen einem Wahnsinnigen an, der mit leuchtenden Augen schon unter Deck steht und mit einer scharfen Axt den Rumpf des Schiffes bearbeitet. Aber alle sind sich sicher: Der bisherige Kurs hat uns in diesen Sturm geführt, also hilft nur eines, wir brauchen einen radikal anderen Kurs! Wobei ich zugebe, wenn das Schiff erst einmal gesunken ist, spielen Stürme künftig tatsächlich eine untergeordnete Rolle.

Ein Virus? Schickt es über die Planke!

Die Corona-Pandemie hat uns dieses merkwürdige Verhalten plakativ vor Augen geführt – und sie eignet sich dafür hervorragend, denn anders als so manch andere Krise, die uns in den nächsten Jahren massiv bedrohen wird, war sie kurz und verhältnismäßig leicht zu bewältigen. Zunächst haben vor allem westliche Demokratien den Kopf in den Sand gesteckt und das Problem ausgesessen. Ausgeschlossen schien es, dass eine Krankheit irgendwo im fernen China jemals bei uns Fuß fassen würde. Während wir zugleich weiterhin die globalisierte Welt predigen, inklusive weltweiter Mobilität.

Kaum, dass das Virus doch bis zu uns gelangt ist, musste das Ruder schleunigst umgerissen werden. Wie so häufig, wenn man keine Vorkehrungen getroffen hat, wird man überrascht und zieht dann erst einmal alle Register, um das Schlimmste zu verhindern. Wie ein Kapitän, der morgens aufsteht und sich unverhofft im Sturm wiederfindet. Wo kam der bitte her? Anfangs sind die Leute noch bereit, den Befehlen Folge zu leisten, aber irgendwann widersetzen sie sich. Wie schlimm kann so ein Virus schon sein, das man nicht sieht? All diese Maßnahmen, nur der Anfang des Weges hinein in ein autoritäres System! Wobei ja lustigerweise ein recht großer Unterschied besteht, ob man gemeinsam und kollektiv beschließt, temporär Freiheiten aufzugeben um einander beizustehen. Oder ob jemand von oben herab Freiheiten nimmt und sie nicht wiedergibt. Der Unterschied besteht freilich auch hier, denn auch wenn unsere Regierungen manchmal wie „von oben herab“ wirken, so sind sie in einer funktionierenden Demokratie ja genau das Gegenteil dessen, nämlich Vertretungen aus dem Volk.

Mit dem Klima funktioniert es jetzt ähnlich. Die Sturmfront „Klimawandel“ droht seit Jahrzehnten am Horizont, aber man hat sich einfach auf die andere Seite des Schiffes gestellt und dort die Sonne genossen. Jetzt rückt der Sturm heran und es werden eilige Vorbereitungen nötig, um das Schiff irgendwie durch diese Krise zu lotsen. Aber jeder Handgriff, der befohlen wird, scheint schon einer zu viel. Also wählen wir stattdessen lieber diejenigen, die Freiheit für jeden bedeuten. Wenn wir das Schiff in seine einzelnen Planken zerlegen und jedem eine Planke geben, kann jeder auf seiner Planke machen, was immer er möchte. Ob das im Sturm sehr hilfreich ist, sei dahin gestellt.

Demokratien – Vom Konflikt zum Konsens

Ganz offensichtlich leiden westliche Demokratien ein wenig darunter, dass die Bevölkerungen kein Vertrauen mehr in die gemeinschaftliche Bewältigungsleistung großer Probleme und Krisen besitzen. Und man muss sich schon die Frage stellen, woher dieses Vertrauensproblem kommt. Ich fürchte, sehr viel davon ist systemimmanent.

Die Demokratie ist per definitionem eine diskursive Staatsform. In einer pluralistischen Gesellschaft treffen unterschiedliche Erwartungen, Wünsche, Perspektiven und Forderungen aufeinander, die im öffentlich politischen Raum miteinander verhandelt werden müssen. Und die, wenn alles gut läuft, in einem mehrheitsfähigen Kompromiss resultieren.

Das heißt aber auch, dass Konflikt, Streit, Auseinandersetzung und „Gegeneinander“ ständig Teil der öffentlichen Debatte ist. Das ist nicht grundsätzlich etwas Schlechtes. Vorausgesetzt, wir können anerkennen dass nur, weil ich etwas möchte und es für richtig empfinde, jemand anders ganz massiv unter dieser Maßnahme leiden könnte, was ich vorher nie bedacht habe. Und umgekehrt, dass meine Bedürfnisse und Sorgen in der Debatte nicht minder schwer wiegen als die eines anderen. Die Auseinandersetzung soll hier ja dazu dienen, Fehler vor Einführung einer Maßnahme zu finden und zu beheben. Und daraus einen Weg zu ebnen, den alle gehen können und bei dem am Schluss niemand dem anderen Vorwürfe macht, weil wir alle gemeinsam beschlossen haben, diesen Weg zu versuchen. Mehrheitlich zumindest.

Nicht nur ist damit aber der Wettstreit um die Ideen und der ideologische Kampf untereinander Dauerprogramm. Wir haben diesen Diskurs auch zunehmend ersetzt durch ein rein ideologisiertes Machtspiel, bei dem es darum geht, die eigenen Ansätze maximal durchzusetzen und alle anderen Perspektiven von vornherein für falsch zu erklären. Es macht schon einen kleinen Unterschied, ob ich im Diskurs jemandem zugestehe, dass er einen guten Punkt gemacht hat und man den durchaus in die Lösung aufnehmen könnte. Oder ob ich den Punkt erst vehement bekämpfe, mich dann umdrehe und ihn als Punkt in meine eigene Lösung integriere. Das eine ist ein lösungsorientierter Diskurs, das andere ist egozentrische Selbstdarstellung.

Der Despot irrt nie!

Eine Autokratie kennt solche Probleme freilich weniger. Wenn der Einzelne seine Freiheiten und seine Perspektiven aufgibt zugunsten einer definierten Führungsfigur, dann muss er oder sie sich nicht mehr großartig mit den Problemen und deren Bewältigungsstrategien befassen. Auf solch einem Schiff wird nicht debattiert. Da wird der Kapitän auch nicht über die Planke geschickt, sondern es werden zackig die Befehle befolgt, die gegeben werden. Allerdings stellt dort auch niemand die Frage, ob der bisherige Kurs vielleicht schuld daran sein könnte, dass wir nun dort sind, wo wir sind.

Umgekehrt ist auch die Kommunikationsstrategie natürlich eine völlig andere. Darf man dem Appell des Kapitäns hier glauben, so ist die ganze Crew wie eine Einheit, alles funktioniert reibungslos, und es ist allein den hellseherischen Entscheidungen des Kapitäns zu verdanken, dass das Schiff „nur“ 70% seiner Besatzung verloren hat und nicht alle. Solange diese Erzählung halbwegs greift und die Leute damit zufrieden sind, hat der Kapitän auch nichts zu befürchten. Und sollte doch langsam die Überlegung aufkommen, ob man nicht anderweitig deutlich mehr Crewmitglieder hätte retten können, lässt man einfach den Schiffsrumpf schrubben bis der Gedanke vom Tisch ist. Also von unten. Aus dem Wasser heraus.

Jedenfalls fehlt hier das diskursive Element, das diesen andauernden Zustand eines Konflikts bedeutet. Und schon um des eigenen Machterhalts willen werden Erfolge präsentiert und herausgestrichen, Kritik daran unterdrückt und ausgeblendet. Das ist natürlich nur eine Scheinstabilität, das steht außer Frage, und die Geschichte ist voll von Momenten in denen diese kraftvoll inszenierte Fassade irgendwann bröckelt, einstürzt und einen Trümmerhaufen zurücklässt.

Die Frage ist aber am Ende doch, wieder mit Blick auf die Demokratien – wie schaffen wir es, dass wir auch in Zeiten großer Krisen mehr Vertrauen in unsere Fähigkeit haben, gemeinsam durch solche Stürme zu kommen? Wie schaffen wir wieder mehr Bewusstsein dafür, dass wir gemeinsam im gleichen Boot sitzen? Und dass nicht zwangsläufig alles, was bisher war, unfassbar schlecht gewesen sein muss, nur weil wir jetzt hier sind. Sondern dass wir uns auf das besinnen müssen, was uns bisher gut zusammen gehalten hat, um auch weiterhin gut durch den Sturm zu kommen.

Über Geschmack lässt sich streiten

Gestern fand auf dem Twitch-Kanal der ARD (ja, das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland ist auf Twitch unterwegs!) der zweite Teil eines kleinen Experiments statt. Denn wie wir alle wissen, der deutschen Bevölkerung ist nahezu nichts so heilig wie der Tatort. Angeleiert durch die Redaktion des Bayrischen Rundfunks (wenn ich es recht verstanden habe) wurde daher eine kleine Pen & Paper-Session in diesem Setting konzipiert, mit der wunderbaren Mháire Stritter von OrkenspalterTV als Spielleiterin und drei Spieler*innen, die mir aber allesamt unbekannt waren. Baso ist wohl selbst Streamerin/Influencerin, einer der Spieler ist seinerseits Tatortkommissar und hatte vorab noch nie mit tabletop Rollenspielen zu tun, und der dritte… keine Ahnung. Aber darum soll es mir auch nicht gehen.

Jedenfalls ist das, insbesondere für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, durchaus ein progressiver Versuch, eine eigene Hausmarke auch abseits der obligatorischen Verteilungswege zu positionieren, und somit neue Inhalte zu produzieren und anzubieten. Bei – da kann ich natürlich nur mutmaßen – vergleichsweise niedrigen Produktionskosten. Zwar wird die Konzeption eines solchen Rollenspielabenteuers, die Spielzeit und die Produktion im Hintergrund auch etwas Geld kosten. Aber vermutlich deutlich weniger als ein aufwändiger Filmdreh am Set.

Ich finde es jedenfalls bemerkenswert, dass bei solchen kreativen und innovativen Angeboten trotzdem Trolle in den Twitch-Chat wandern, die nichts besseres zu tun haben als sich über das Angebot lustig zu machen. Auf der einen Seite sind da ganz klassische Trolle, die zum Beispiel finden: „Die ARD ist auf Twitch? Cringe!“, oder die finden „Wenn ihr auf Twitch seid, warum nicht gleich auf OnlyFans?“. Was genau der Reiz dahinter ist, durch Kanäle zu gehen, solche Nachrichten zu setzen, die höchstens randständig zur Kenntnis genommen werden ehe der eigene Account gebannt wird, habe ich noch nie so ganz nachvollziehen können. Nichtsdestotrotz handelt es sich dabei immer noch um ganz gängiges Trollverhalten.

„Und dafür zahle ich Gebühren?!“ ist hingegen ein systemischer Vorwurf, der sich oft unter social media Beiträgen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks findet. Beispielsweise auch unter Angeboten auf Instagram, wo Formate versuchen, die Themen zu bespielen, die beispielsweise vor allem junge Menschen ansprechen sollen.

Daran finde ich eine ganze Reihe von Dingen bemerkenswert.

Erstens könnte man annehmen, die Personen erkennen den Mehrwert des dargebotenen Inhalts tatsächlich nicht an und kritisieren den Umgang mit den Gebührengeldern ehrlicherweise. In dem Fall müsste man konstatieren, dass diese Menschen davon ausgehen, jeder Inhalt, der ihren eigenen Interesse zuwiderläuft, sei nicht produktionswürdig. Eine durchaus verbreitete Haltung, möchte ich meinen. Aber nur, weil ich persönlich kein Frühstücksfernsehen, keinen Musikantenstadl und keinen Tatort schaue, heißt das noch lange nicht, dass diese Produktionen keine interessierten Zuschauer*innen haben. Es grenzt schon fast an Hybris, davon auszugehen, dass nur der eigene Interessenshorizont als „finanzierungswürdiger Inhalt“ zu gelten hat. Insbesondere, da wir alle zwangsläufig sehr viel eingeschränkter sind als die volle Breite unserer Gesellschaft.

Gerade auf Instagram sehe ich bei sehr vielen Angeboten vor allem Themen, die sehr junge Menschen ansprechen. Da geht es darum, wie man das eigene Leben in den Griff bekommt, wie man mit Gefühlen, Ängsten, dem Alleinsein oder mit anderen Menschen klar kommt. Es geht um Liebe, Freundschaft, Sex. Ja, manchmal sitze ich auch etwas ratlos da, kratze mich am Kopf und verstehe nicht ganz genau, warum der Inhalt publikationswürdig gewesen sein soll. Was wichtig ist zu verstehen: Nur, weil mir etwas sonnenklar ist, muss das nicht für jeden so gelten. Nur, weil mich etwas nicht interessiert, wendet sich jeder gelangweilt ab.

Zweitens: Selbst, wenn ein solches Angebot nur einen kleinen Personenkreis anspräche, so stünde die Frage im Raum, was daran verwerflich wäre. Denn es ist ja gerade Sinn und Zweck der speziellen Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Angebote zu schaffen, die einerseits frei sind und andererseits binnenpluralistisch eine möglichst große Bandbreite der Gesellschaft abdecken. Oder umgekehrt gefragt: Wie wahrscheinlich ist es, dass sich Rollenspieler im Privatfernsehen wiederfinden werden? Dort scheinen intellektuelle Topproduktionen wie Kaugummi-Weitspucken die Nase vorne zu haben.

Drittens gehe ich auch sehr stark davon aus, dass solche „Kritiker*innen“ wenig Einblick in die Umgebungsfaktoren haben. Wie groß ist der potentielle „Markt“ für ein solches Angebot? Wie groß ist die Rezeption? Das trifft ja nicht nur die Zuschauer*innen, die ein Angebot live verfolgen, sondern auch etwaige Aufrufe in einer Mediathek oder als VOD auf Twitch. Wie hoch sind die Produktionskosten? Vor allem im Vergleich zu einem Tatort-Dreh? Wenn die Argumentation also schon auf finanzielle Aspekte abzielt, muss man sich vermutlich eingestehen, dass man die notwendigen Kennzahlen zur Beurteilung der Qualität einer Produktion gar nicht kennt.

Viertens denke ich aber ohnehin, dass es solchen Kritiker*innen nie um die Zahlen und das Geld geht. Denn wie eingangs angedeutet handelt es sich dabei vor allem um eine systemische Kritik. Darin ist vielmehr ein Versuch zu lesen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu desavouieren und somit das Vertrauen oder die Akzeptanz der Medien in der Gesamtgesellschaft zu torpedieren. Zunächst weist man die Menschen darauf hin, wie verschwenderisch diese Institutionen doch ganz offensichtlich mit dem Geld umgehen, das alle Bürger*innen ZWANGSWEISE (die Betonung ist ganz wichtig) zahlen MÜSSEN. Und dann kommt SOWAS dabei heraus. Dicht gefolgt von dem Vorwurf, dass die MSM, also die „Mainstream-Medien“ ohnehin nur der Regierungslinie folgen würden bzw. nur ein ganz bestimmtes Weltbild propagieren würden. Das ist der direkte Weg in den Zweifel und das Misstrauen gegenüber der Medienwelt, die im schlimmsten Falle in den Schlund privater „Nachrichten“anbieter führt, also in die Welt der Verschwörungstheorien und politisch extremen Akteure. „Sowas kommt von sowas“ möchte man ausrufen, wenn dann plötzlich jemand ein Meinungsstück einer rechtsextremen Plattform als Beleg für eine absurde politische Theorie anführt.

Ich frage mich manchmal, ob und wie gut das funktioniert. Denn man liest diese Form der Verunglimpfung unter öffentlich-rechtlichen Inhalten zuhauf. Ich habe keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um gezielte, konzertierte Aktionen handelt. Und ich frage mich, ob es angesichts der Menge und der steten Wiederholung dieser Vorwürfe von scheinbar immer neuen Accounts (wer weiß, wie viele „Menschen“ wirklich hinter diesen Accounts sitzen?) eine Auswirkung auf normale Leser*innen gibt? Schleichen sich solche Zweifel am System, an den Medien, an der bislang sehr erfolgreichen Strategie der Binnenpluralität in unserem Mediensystem ein? Locken solche Mechanismen Menschen in die Spirale der Verschwörungstheorien? Oder geht es vor allem darum, Kapazitäten des ÖRR zu binden, um solche Inhalte zu moderieren?

Final noch der Hinweis: Nein, es gibt bestimmt auch Menschen, die wirklich nicht verstehen, wie man diesen oder jenen Inhalt publizieren kann. Und Unverständnis, vielleicht auch Ungehaltenheit wegen besonders großem Unsinn ist keine Systemkritik, ist kein Unterminierungsversuch, nichts dergleichen. Nicht alles, was vier Beine hat, ist eine Katze. Und Kritik am öffentlich-rechtlichen System sowie den Inhalten ist natürlich auch wünschenswert – man denke nur an die diversen Skandale, die es in letzter Zeit so gab, etwa beim RBB. Kritik ließe sich auch an der politischen Überwachung des ÖR in Deutschland üben. Und Kritik lässt sich durchaus schon auch an der Verteilung der Gelder, den Produktionskosten und -inhalten üben. Wie so oft ist es manchmal das Argument und die Art, wie das diskursive Schwert geschwungen wird, die den Unterschied machen zwischen echter, ernstzunehmender Kritik und einem banalen Angriff auf eine demokratische Institution.

Irgendwie zwischen Gendern und dem nackten Überleben

Der Kulturkampf unserer Zeit ist voll entbrannt. Auf der einen Seite wähnen sich die Vorkämpfer für die maximale individuelle Repräsentation der Gesellschaft, Freiheit und Anerkennung aller, umgekehrt oft als „woke“ verschrien. Und auf der anderen Seite schütteln Menschen genervt, bisweilen aggressiv den Kopf und verweisen auf teure Lebensmittel, wegbrechende Existenzen und die „echten Probleme breiter Gesellschaftsschichten“, die einem verkopften Pseudoproblem städtischer Akademiker*innen nachgestellt würden. Aber ist das wirklich das große Problem unserer Zeit?

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Rollenspiel: Endres Corin – Charaktergeschichte

Die nachfolgende kurze Geschichte war Teil einer Bewerbung auf einem online Rollenspielserver. Ich wollte einen Magier spielen, der später Teil einer guten/“lichten“ Magierakademie werden sollte. Die Geschichte sollte daher beschreiben, woher der Charakter kommt, wie er so ist und agiert. Und zum anderen sollte der Moment beschrieben werden, in dem zum ersten Mal seine magische Befähigung zum Ausbruch kommt. Und weil ich es nicht lassen kann, spielt in diesem Fall eine unerfüllte Liebe zu einem anderen jungen Mann eine essenzielle Rolle. Die Bewerbung wurde übrigens angenommen, und Endres wurde bereits an der Magierakademie aufgenommen.

Endres Corin stammt aus einfachen Verhältnissen. Aufgewachsen ist der junge Mann als drittes von insgesamt acht Kindern in einer Handwerkerfamilie in einem recht kleinen und unbedeutenden Dorf am Rande eines Lehens. Selbst der Lehnsherr kümmert sich nur wenig um die dortigen Anwohner und ihre Belange, tragen sie doch wenig zum Reichtum der Landeskasse oder zur Erheiterung der adeligen Gemüter bei. Und so gehen die Anwohner*innen tagtäglich ihrem eigenen Treiben nach, größtenteils abgeschieden vom Rest der Welt, und nur selten belastet von Steuereintreibern oder sonstigen Forderungen aus der Ferne. Nur hin und wieder verirrt sich ein reisender Bote auf dem Weg in eine andere Stadt in das Dorf und erzählt auf dem Dorfplatz von den Geschehnissen in der Welt, verbreitet den neuesten Klatsch und Tratsch und wundert sich, warum er vorher noch nie von diesem Weiler gehört hatte. Für die Leute dort kein großes Problem – sie leben gemütlich ihr eigenes Leben, größtenteils autark.

Für Endres bestand der größte Teil seines bisherigen Lebens daher aus anstrengender körperlicher Arbeit, entweder in der Beflissenheit, seinem Vater in der Werkstatt zur Hand zu gehen, oder um seiner Mutter im Haushalt zu helfen. In Zeiten der Aussaat oder der Ernte steht er auch schon einmal mit den anderen Jungen und Mädchen auf dem Felde, um den Nachbarn zur Hand zu gehen, gegen entsprechende Entlohnung natürlich. Für die ganze Familie ist klar, dass er eines Tages das Handwerk seines Vaters übernehmen und seinen Weg in der Welt suchen wird, in einem anderen Dorf, einem anderen Land, wie man das so macht als Handwerker, auf langen Reisen um so die Grundzüge des handwerklichen Schaffens zu erlernen.

Endres war schon immer ein relativ zurückgezogenes, scheues Kind. Er hat nur wenige Freunde. Es fiel ihm schon immer schwer, auf andere zuzugehen und sich ihnen zu öffnen, ihnen gar vollends zu vertrauen. Ein Mädchen, Aleidis, das zwei Häuser weiter wohnte und immer sehr fasziniert von ihm zu sein schien, auf eine ganz platonische, kindliche Weise, war irgendwie anders. Irgendwann hatte sie begonnen, ihm Geschichten und Geheimnisse zu erzählen, während er am Arbeiten war, und er hatte erst nur schweigend zugehört. Irgendwann fing auch er an zu reden, erzählte ihr von seinen Träumen, Wünschen, Gedanken. Davon, dass er eines Tages Handwerker sein würde wie sein Vater. Aber auch, dass ihn das Handwerk nicht wirklich interessiere. Dass er weggehen wolle. Dass er sich einsam fühlte. Es fühlte sich mit ihr irgendwie richtig an, und die beiden teilen seither sehr viele ihrer inneren Stürme. Aleidis ist bis heute die einzige Person nebst seiner eigenen Mutter, der er sein Innerstes anvertraut.

Sein zweiter bester Freund ist ein Junge aus dem Dorf, Berit, den er vom ersten Tag an faszinierend fand, und mit dem er die meisten seiner Abenteuer abseits des heimischen Herdes erlebte. Seien es Ausflüge in die Umgebung, ein imaginärer Kampf gegen die Horden des Bösen, oder der Versuch, Bäuerin Jaschka vom anderen Ende des Dorfes ihren frischen Apfelkuchen zu stehlen. Diese innige Freundschaft erlebte jedoch eine turbulente Phase, als sie alle notgedrungen älter wurden, die Pubertät durchlebten und Endres erkennen musste, dass er für seinen Kindheitsfreund mehr empfand als reine Freundschaft. Nicht nur, dass Endres schwerlich zu begreifen vermochte, wie ihm geschah, und was an ihm anders war. Es war ihm instinktiv auch klar, dass derlei Gefühle falsch und widersinnig sein mussten und er sie zu verstecken hatte – vor Berit, vor seiner Familie, vor dem Dorf, und letztlich auch vor sich selbst. Es ist vermutlich keine große Enthüllung zu konstatieren, dass ihm dies bis heute nicht so recht gelang, und er vielmehr eine unausgeglichene Koexistenz mit seinem inneren Gefühlshaushalt pflegt. Immerhin gelang es ihm, die Freundschaft zu Berit aufrecht zu erhalten.

Und so erlebten die drei Freunde all jene Phasen, die das Erwachsenwerden mit sich bringt, mit Momenten der Entfremdung und der Wiederannäherung, mit dem erwachenden Interesse an anderen jungen Menschen, ersten Erfahrungen und Experimenten. Nur Endres blieb in sich allein gekehrt, nicht nur aufgrund seiner (dem eigenen Empfinden nach) unziemlichen Gefühle, sondern schon ob seiner generellen Scheu Anderen gegenüber.

Sein Leben sollte sich drastisch verändern an einem bestimmten Tag kurz nach seinem neunzehnten Geburtstag, als er mit Berit gemeinsam auf einer kleinen Anhöhe saß um dort mit einem Schlauch Wein, den sie „ausgeliehen“ hatten, das Tagwerk zu begießen. Die beiden lachten, die beiden scherzten, und Berit erzählte ausgelassen von seinen Plänen für die Zukunft, dem Haus, das er bauen wollte, und den kleinen Kindern, die einst ausgelassen in seinem Garten spielen würden. Gewiss, ein schmerzhafter Stich in das Herz des jungen Endres, doch einer, an den er sich gewohnt hatte. Er gönnte seinem Freund alles Glück dieser Welt. Nein, nicht diese Einlassungen waren es, die sein Leben grundlegend verändern sollten. Sondern jener unglückliche Moment, als die beiden aufstanden und lachend, leicht angetrunken torkelnd, wieder nach unten zu steigen versuchten. Wie immer war Berit ausgelassen, fröhlich, ja tollkühn, und ging näher an der Kante, als zuzusehen selbst im nüchternen Zustand gut gewesen wäre. „Hör auf, das ist gefährlich“, lachte Endres glucksend, und „Ach was, sei keine Memme!“ gab Berit kichernd zurück. Bis, ja bis er dieses eine Mal doch einen Stein erwischte, der sich lockerte, schneller als er sein Gewicht zurück verlagern konnte, und mit einem Mal kullerte nicht nur eine steinerne Lawine, sondern auch ein junger Dorfjunge einen steilen steinernen Abhang hinunter.

Endres wurde eiskalt in diesem Augenblick. Ein solcher Absturz war gefährlich, bisweilen gar tödlich, denn der Abhang war steil und gespickt von scharfen Steinen und Geröll, die im besten Falle noch nur die Haut tief aufschürfen würden. Selbst Gemsen, in bergigem Terrain beheimatet, wurden schon aufgeschlitzt von scharfem Gestein am Fuße des Hanges gefunden. Und nun musste er hilflos zusehen, wie sein bester Freund schreiend den Abhang hinunter geschüttelt wurde. Mit jedem Schlag gegen einen Stein ein rauer, schmerzerfüllter Ruf. Ein vibrierender Ruf, der ihn bis ins Mark traf. Tränen schossen ihm in die Augen, sein Magen zog sich zusammen. „BERIT!“ schrie er, mit der Verzweiflung absoluter Ohnmacht.

Was dann geschah, verstand er selbst nicht. Wie von Sinnen und mit einem merkwürdigen, dröhnenden Vibrieren in seinem Kopf eilte er den Weg hinunter, wie sie ihn gekommen waren, behände und so vorsichtig, wie es die Eile eben zuließ. Unten angekommen lag sein Freund, blutend und mit zahlreichen aufgeschürften Wunden – auf einem strahlend weißen Bett aus sandig zermahlenem Gestein. Er atmete. Er lebte. Er stöhnte vor Schmerz. „Das war… lustig“ hustete er und wischte sich etwas steinernen Split aus dem Gesicht, ehe er sich von Endres aufhelfen ließ. Der ihn umgehend umarmte, so fest, so innig, wie man jemanden umarmt, den man für immer verloren glaubte. Er lebte. Erst, als sie sich – trotz all der Trunkenheit etwas peinlich berührt – wieder voneinander lösten, fiel ihr Blick auf den Abhang. Von jenem spitzen Geröll und Gestein, das so gefürchtet war, war nichts mehr zu sehen. Der weißliche Kalkstein hatte sich in seiner Gesamtheit in feinsten Sand aufgelöst, auf dem Berit wie von einer sanften Decke getragen hinunter ins Tal geschlittert war. „Was zum…“ keuchte Berit, als er dies sah. Doch Endres vermochte nicht zu sprechen. Er sah den Sand, sah den Hang, und er spürte das Vibrieren, auf seltsame Art und Weise konnte er den Sand… fühlen. Er ging in die Hocke, griff nach dem Sand. Und just, als seine Finger selbigen berührten, da ließ alle Anspannung in ihm ab, das Vibrieren in seinem Inneren verstummte, und in gleichem Augenblick verhärtete sich das Geröll wieder und wurde zu festem, hartem Gestein. Endres ging zu Boden, entkräftet und überwältigt von diesem magischen Ausbruch, den er gar nicht augenblicklich als solchen zu begreifen imstande war.

Nicht jeder hätte wohl gut verkraftet, einen solchen Ausbruch magischen Wirkens nicht nur miterlebt, sondern am eigenen Leibe gespürt zu haben. Und Endres war keine Ausnahme, für ihn war dieses Erlebnis schockierend, bis ins Mark. Er hatte etwas gespürt, das er noch nie gespürt hatte, diese Vibration, diese Energie, und dieses Etwas vermengte sich mit der merkwürdigen emotionalen Lage in ihm. Doch Berit? Auch Berit war kein Adelsmann und nicht weit gereist. Sie hatten merkwürdige Geschichten von Magie und Zauberwirkern gehört, natürlich, vor allem in Geschichten. Sie hatten auch selbst Abenteuer erdacht und erfunden, in denen einer von ihnen ein mächtiger Magier wäre, mal auf der Seite des Bösen, mal auf der Seite des Guten, der mit mächtigem Flammenregen alles in Schutt und Asche legen würde. Magie, das hieß vor allem Macht, Gefahr, Bedrohung und Tod. Nichts Gutes konnte von Menschen kommen, denen eine solche Macht innewohnte, da war man sich weithin sicher. Aber sein Freund, Endres, ein Magier? Und wo andere sich abgewendet, ihn vielleicht gar an den Pranger gestellt hätten, da offenbarte Berit das ganze Ausmaß ihrer Freundschaft. Stand ihm bei. Half ihm, zu begreifen, was geschehen war. Und suchte gemeinsam mit ihm nach Wegen, all dies zu ergründen.

Eine Lösung fand sich wenige Monate später: ein reisender Priester, auf seinem Weg durch die Lande um die Menschen von den guten Taten der Eluive und der Temora zu belehren. Er war ein älterer, gutmütiger Mann mit Rauschebart, einem Hang zum Bier und zu einer guten Geschichte – ganz anders als die Priester, die man sonst so aus den Kapellen und Kirchen kannte. Da fassten die beiden Jungen – und Aleidis, die inzwischen längst auch eingeweiht war – sich ein Herz und vertrauten sich dem Pater an. Der staunte nicht schlecht ob der Geschichte, und wurde nicht müde das edle Herz und die Güte der Mutter zu preisen. Ob er ein guter Junge sei, fragte er Endres, und bevor der antworten konnte, überschütteten seine beiden Freunde ihn mit Lobpreisungen. Da lächelte der Priester und erzählte von einem fernen Land, aus dem er komme, namens Gerimor. Dort gäbe es einen Konvent, unter dem wachsamen Blicke des Phanodain, an dem Magie gelehrt und geübt werde, auf dass jene, die mit der zauberhaften Fähigkeit gesegnet worden seien kein Unbill, sondern Freude und Zufriedenheit über das Land brächten. Und so ward der Weg des jungen Endres gezeichnet. Er würde nach Gerimor gehen. Er würde dort den Konvent suchen und sich erklären lassen, was mit ihm los sei. Und er würde lernen, diese Kraft dereinst zu kontrollieren. Das, so fand er, war er sich und dieser Gabe schuldig, die ihm nicht weniger als seine Jugendliebe vor dem Tod gerettet hatte.

Freundschaft

In unregelmäßigen Abständen mache ich mir Gedanken über den Begriff der Freundschaft. Wer sind meine Freunde? Wie viele Freunde habe ich? Wie eng sind diese Freunde mit mir? Das alles mündet zwangsläufig irgendwann in eine Definitionsfrage, die für mich schon allein deshalb bedeutend oder naheliegend ist, weil ich in der Vergangenheit einige sehr schöne Definitionen dafür lesen durfte, die meinem eigenen Empfinden sehr gut entsprechen.

„Freund“ ist ein Begriff, der sich über einige Jahre hinweg durch den Aufwind der Social Media Plattformen in semantischem Verfall befand. Auf Lokalisten, StudiVZ oder Facebook ist man rein terminologisch eben schon „befreundet“ gewesen, wenn zwei Profile sich nur gegenseitig verlinkt haben. Die Webseiten gibt es heute nicht mehr, sie haben keine große Relevanz mehr, oder aus dem Begriff der Freundschaft ist ein „follow“ geworden. Man verfolgt nun die Aktivitäten, den Feed einer anderen Person. Was vielleicht den Kern der Sache auch besser trifft. Schließlich spielt man in den sozialen Medien mehr Voyeur und Stalker als echten Freund.

Ich habe aber auch den Eindruck, dass diese semantische Aufweichung des Begriffs „Freundschaft“ nach einer Weile dafür gesorgt hat, dass sich die Menschen der originären Bedeutung des Wortes wieder stärker bewusst wurden. Nein, wer mir auf sozialen Medien folgt ist eben kein Freund. Nicht zwangsläufig. Er ist, wie man bisweilen feststellen muss oder darf, nicht einmal notwendigerweise wirklich an mir interessiert. Jemandem in den sozialen Medien zu folgen, das erfordert wenig Investment, wenig Kapital. Ein schneller Klick und es ist erledigt. Anschließend kann man abwarten, ob die Präsenz der Person im eigenen Newsfeed als angenehm empfunden wird, oder ob man nach kurzer Zeit doch wieder entfolgt. Freundschaft und Ghosting ohne dass der andere das überhaupt mitbekommt. Convenient.

Mit Freundschaft hat all das natürlich gar nichts zu tun. Freundschaft ist – wenigstens für mich – Ausdruck einer sehr engen, vertrauensvollen Bindung zwischen zwei Menschen. Freundschaft entsteht nicht über Nacht, sondern sie ist das Ergebnis eines Prozesses. Man trifft im Leben aufeinander, interessiert sich füreinander. Und wenn dieser gemeinsame Weg langfristiger wird und man miteinander im Gespräch bleibt, während man wandert, dann kann daraus eine Freundschaft werden.

Eine sehr prägende Variante von Freundschaft hat eine fiktive Romanfigur aus einem meiner absoluten Lieblingsbücher, Ritter Sperber aus der Fantasytrilogie „Elenium“ von David Eddings. Sperber, seines Zeichens ein Musterbild von einem Mann, tugendhaft und durchsetzungsstark gleichermaßen (allerdings mit gebrochener Nase), nutzt diesen Begriff ganz bewusst sehr selten. Er käme nicht auf die Idee, einen dahergelaufenen Mann am Straßenrand oder einen Adeligen am Hofe mit „Freund“ anzureden, auch wenn dies eine höfliche und gewinnende Floskel sein mag. Stattdessen gebraucht er den Begriff „Nachbar“. „Hey, ihr da, Nachbar, wo geht es hier des Weges?“ Nicht minder der Versuch, eine soziale Nähe zwischen beiden Personen aufzubauen, das Eis zu brechen, aber ohne eine Abwertung des Begriffs der Freundschaft. Denn diese behält Sperber den Menschen vor, die ihm wirklich als Freunde gelten. Jenen Mannen und Frauen, die ihn im Leben begleiten, die von seiner Vergangenheit wissen und die seine Gedanken und Gefühle verstehen.

Ich habe das Buch in meiner Jugend das erste Mal gelesen, und wann immer ich heute an die Elenium-Trilogie denke, dann sind es nicht Magie, Götter oder Ritter, die ich im Sinn habe, sondern genau dieser Begriff von Freundschaft. Ein Begriff, den ich zumindest innerlich sehr ähnlich handhabe.

Insofern ist der Kreis der Personen, die mir ernsthaft nah sind, die ich also als Freunde bezeichnen würde, äußerst klein. Es sind Menschen, denen ich unumwunden meine größten seelischen Schmerzen erklären kann. Mit denen ich meine Sorgen und Ängste teile. Und bei denen ich, und das ist mir vielleicht sogar das Wichtigste, nicht das Gefühl habe, dass ich ihnen irgendwie zur Belastung werde. Freundschaft bedeutet für mich, dass ich mich bei der anderen Person behütet fühle, dass mein Gegenüber mich ernst nimmt, mich sieht, und sich gerne mit mir umgibt. Ungeachtet der Zeit, die wir gemeinsam in Anspruch nehmen. Das gelingt nicht immer. Und manchmal mag ein Mensch die besten Intentionen haben, und gar all dies so empfinden, mich als Freund sehen und glauben, dass er sich mir gegenüber als bester Freund verhält, und doch ist das, was ich verspüre, eine Ablehnung, die mich weiter und weiter davon treibt, die irgendwann gar in Enttäuschung mündet.

Einen anderen Gedanken zur Freundschaft habe ich gestern ausgerechnet in Mortal Kombat 1 gefunden – ein brutales Streetfighter Game, in dem man nicht zwangsläufig tiefschürfende Weisheiten vermuten würde. Und doch sagt Li Mei dort zu Königin Sindel (wortgemäß, ich weiß um das genaue Zitat nicht mehr): in einer Freundschaft wird nicht gegeneinander aufgewogen. Soll heißen, man leistet einem Freund keine Dienste, weil man sich dafür einen Dienst erhofft. Man steht nicht in der Schuld eines Freundes. Weil eine Freundschaft keine Schulden kennt.

Was mich dann wiederum zu der Frage führt: Betrachte ich in manchen Fällen meine Beziehungen zu anderen Menschen falsch? Bin ich es, der unrechtmäßig genau solche Rechnungen aufmacht, weil ich Freundschaften falsch lebe? Oder ist das möglicherweise umgekehrt ein Erkennungszeichen dafür, dass eine Beziehung zu einem anderen Menschen echte Freundschaft ist. Wenn ich nämlich aufhöre, mir über solche Kleinigkeiten Gedanken zu machen, und einfach nur dafür sorgen will, dass es dem anderen gut geht. Wenn es mir völlig egal ist, ob mein Gegenüber mir das jemals in gleicher Münze „heimzahlen“ kann, weil unser Miteinander das Einzige ist, worauf es ankommt.

Eines noch. In meiner Welt ist Freundschaft kein sehr volatiles Gebilde. Es dauert lange, bis sich eine Freundschaft bildet, und sie erfordert einen aktiven Beitrag beider Seiten, wie auch immer der aussehen mag. Am Ende sind alle zwischenmenschlichen Beziehungen stets einzigartig, weil immer zwei sehr einzigartige Entitäten aufeinander treffen. Das heißt umgekehrt aber auch, dass Freundschaften selten einfach so zerbrechen. Das soll nicht heißen, dass das nicht vorkommen kann – wenn mir jemand bewusst, aktiv und willentlich massiv schadet, oder wenn jemand mit einem Mal Überzeugungen nachhängt, die ich aus der tiefsten Grundhaltung meines Seins heraus nicht teilen kann, dann ist die Freundschaft einer so heftigen Belastungsprobe ausgesetzt, dass sie zerbersten kann wie eine perforierte Glasscheibe unter Druck. Doch ansonsten ist für mich auch die Entfremdung ein langwieriger Prozess. Ich würde niemals jemanden nicht mehr als „Freund“ erachten, nur weil die Person für eine gewisse Zeit unnahbar wirkt oder mich nicht ernst nimmt und mir nicht zuhört. Wir alle haben solche Phasen in unserem Leben, in denen die Dinge nicht gut laufen. In denen wir gestresst und ausgebrannt sind. Oder in denen uns andere Dinge und Menschen wichtiger sind. Erst, wenn daraus langfristig das Gefühl wird, dass kein Interesse an einem Fortbestand des gemeinsamen Weges mehr ist, dann ist auch die Freundschaft vorbei. Und eine Rückkehr dorthin, ein Rückgewinn des gegenseitigen Vertrauens, ist ungleich schwerer.

Rollenspiel

„Rollenspiel“ ist ein Begriff, den man je nach eigener Sozialisierung wahlweise ins Schlafzimmer oder an den Wohnzimmertisch verorten kann. Darum sei an dieser Stelle direkt darauf hingewiesen, dass es hier nicht um die ganz privaten Fantasien hinter verschlossenen Türen gehen soll. Sondern vielmehr um ein „nerdiges“ Hobby, das vor allem Schüler*innen und Studierende schon seit vielen Jahren begeistert, sich aber auch heute noch in traditioneller Weise, vermehrt aber auch in moderner digitaler Form findet. Gewissermaßen die aktive, soziale und kreative Variante von Netflix-Bingewatching oder Videogaming.

Die Frage ist also: Was ist klassisches „Rollenspiel“ eigentlich und wie funktioniert das? Was braucht man dafür? Und wie haben sich diese Rollenspiele in der digitalen Welt entwickelt? Ein kleiner, natürlich nicht allumfassender Überblick.

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Vorsätze – das März-Update

Im Januar hatte ich eine Reihe von Vorsätzen für das neue Jahr 2024 definiert. Gemeinhin ist es ja üblich, dass man sich von diesen Vorsätzen schon wenige Tage nach Begießen des Jahreswechsels schon wieder vollständig verabschiedet und sich in die exakt gegenteilige Richtung bewegt hat. Im Gegensatz zu dieser weit verbreiteten, lieb gewonnenen Tradition versuche ich jedoch, meinen Vorsätzen so gut wie irgend möglich gerecht zu werden. Wagen wir nach zwei verstrichenen Monaten (wo zum Henker ist die Zeit hin?!) einen Blick auf die Liste:

  • 12 Bücher lesen – das hat bislang erstaunlich gut funktioniert. Fünf (!) Bücher sind bereits gelesen, die meisten davon gay romance novels, dazu noch ein Buch mit koreanischen Horrorgeschichten. Aktuell sitze ich an einem Buch mit altnordischen Mythengeschichten. Ich bin fasziniert, wie nah Marvel teilweise an der echten Mythologie dran ist. So echt Mythologie eben sein kann.
  • Bretter die die Welt bedeuten – dazu bleibt mir aktuell leider keine Zeit, das Projekt muss ich in die zweite Jahreshälfte schieben.
  • 10 Kurzgeschichten schreiben – mit Herzblut und Nachrichten sind zumindest schon zwei Geschichten geschrieben, beide hier auf dem Blog veröffentlicht und vertont.
  • 5 Songs aufnehmen – ich hab zur Zeit keine Sangesstimme. War krank. Mist.
  • Bilder malen (3 normal, 1 hyperrealistisch) – ich habe wieder ein bisschen angefangen zu zeichnen, aber bislang nichts, was ich als kunstvoll erachten würde. Mir fehlt noch ein bisschen die Idee, in welche Richtung es gehen könnte. Aber ein paar ägyptische und Science-Fiction-Motive habe ich schon hinter mir.
  • Heiraten – ich könnte nicht weiter davon entfernt sein.
  • Doktorat abschließen – zwar ist es mir gelungen, gleich zwei mit Geldern versehene Anträge bei Förderinstitutionen bewilligt zu bekommen. Unter anderem für ein PostDoc-Projekt. Aber die Dissertation bereitet mir immer noch große Kopfschmerzen.

Insgesamt also keine ganz schlechte Bilanz nach zwei von zwölf Monaten. Aber ich sollte noch etwas mehr Gas geben. Keine Ablenkungen mehr!

Nachrichten

Es war ein kalter, regnerischer Novembertag, die schweren Wassertropfen prasselten geräuschvoll auf den harten, grauen Betonboden der Stadt. Allein die Wasserpfützen, die sich rasch mal hier, mal dort gebildet hatten, tauchten die sonst farblose Umgebung der pflanzlosen Steinwüsten in eine schimmernde, fast schon mystische Atmosphäre, spiegelten das Licht zahlloser Lampen, Laternen und Ladenbeleuchtungen.

Nachdenklich hielt Luke inne und das leise Klackern der Tastatur, auf der er bis gerade noch geschrieben hatte, hallte dumpf in seinem Kopf nach, bis es sich mit seinen Gedanken vermengte und langsam verflüchtigte. Ein kalter, regnerischer Novembertag? Jemand sollte eine Studie dazu anfertigen, wie viele Geschichten mit Wetterbeschreibungen begonnen wurden. Leicht verärgert schüttelte er den Kopf, löschte die bisherigen Zeilen und starrte sinnierend auf das nun wieder völlig leere, weiße Dokument.

Zwei kurze Vibrationen rissen ihn aus seinen Gedanken, die erste vom anderen Ende des Zimmers, die andere direkt an seinem Handgelenk. Eine Spur zu schnell, eine Spur zu erwartungsvoll drehte er die Hand in einer schwungvollen Bewegung. Seine neue Armbanduhr mochte zwar „smart“ sein, aber sie brauchte immer noch eine gesonderte kinetische Aufforderung, um ihm die neuesten Mitteilungen anzuzeigen. Ein kleines rotes Symbol. Der Text dahinter interessierte ihn schon gar nicht mehr. Wieder ein unwichtiger, unlustiger Beitrag auf Reddit. Er hätte die Benachrichtigungen längst abgestellt, wenn ihn das nicht mehr als zwei Handgriffe gekostet hätte.

Luke ließ die Hand sinken und stierte wieder auf den Bildschirm vor sich. Erst nach einer ganzen Weile dämmerte ihm, dass sich zu der großen, weiten Leere fehlender Formulierungen und Ideen ein neues, nagendes Gefühl gesellt hatte. Enttäuschung. Und jetzt, da ihm dieses Gefühl bewusst geworden war, drängelte es sich mit kraftvoller Impertinenz in den Vordergrund, sprang und hüpfte und wedelte mit beiden Armen vor seinem Gesicht und rief „Beachte mich! Du weißt, dass ich da bin! Ich bin es, dein alter Freund!“

Mit einem leisen Winseln ließ Luke den Kopf in beide Arme und auf den Tisch fallen. War das nötig? Er hatte es gerade geschafft gehabt, sich auf etwas zu konzentrieren, sich zu fokussieren. Sich neu zu ordnen. Und mit einem Mal war alles wieder da. Der leise Funken Hoffnung. Die freudige Erwartung. Die Enttäuschung. Die Demütigung. Und all das in einem Bruchteil einer Sekunde. Ein Spielfilm, den er sich, so schlecht er ihn auch fand, inzwischen mehrfach stündlich anschaute. Der Film wurde dadurch nicht besser.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Gefühlssturm in seinem Kopf wieder halbwegs gelegt hatte und er einzelne Gedankenfetzen greifen konnte. Die ganze Situation war so unfassbar dämlich. Luke legte den Kopf ein wenig schief, zog die Nase hoch und wiederholte den immer gleichen und längst verinnerlichten Gedanken zum tausendsten Male.

Er war ein Nervenbündel. Weil er unbewusst und bewusst auf die Nachricht eines Menschen wartete, der ihm wichtig war. Der ihm viel bedeutete. Keine bestimmte Nachricht, kein lebensumstürzendes Fanal an Gefühlsduselei oder unerschütterlicher Zuneigung. Ein… Lebenszeichen? Ein kleiner gedanklicher Stubs? Allein, er wartete vergeblich, seit Stunden und Tagen. Jedes Vibrieren des Handys verhieß „Das könnte er sein!“, doch er war es nicht, und Luke hatte gelernt, inzwischen all die nutzlosen Apps auf seinem Telefon zu hassen, die ihm wertlose Nachrichten, Emails und Handlungsaufforderungen schickten, für die er sich aktuell einfach nicht interessierte. Weil er sich für gar nichts mehr interessierte. Weil sein Kopf einfach blockiert war.

Und dann fing der Unsinn erst richtig an. Enttäuschte und völlig haltlose Schuldzuweisungen, direkt gefolgt von der umgekehrten Inschutznahme. Endlose Fragen nach dem Warum und Wieso und Weshalb, egal wie profan und banal die Antworten auch sein mögen, egal wie falsch die Fragen an sich schon sind. Irgendwann die Umkehr, die Selbsterkenntnis, wie absurd all diese Gedanken waren. Eine Erkenntnis, die direkt in Scham und ein Gefühl von Demütigung führt. Mehrere Minuten lang fühlte sich Luke wie gefangen in diesem schier endlosen Strudel aus Emotionen und Gedanken, bis jeder Gedanke zehnmal gedacht, zehnmal neu formuliert, und zehnmal widerlegt worden war. Es war alles dazu gedacht worden, zum wiederholten Male, und er war müde. Sein Kopf sank noch etwas tiefer in seine Arme. Er zog die Nase hoch.

Aber das Problem saß natürlich viel tiefer. Die Fragen, die er sich in Wirklichkeit stellte, waren ganz andere. Manchmal traute er sich, sie offen zu stellen. Sich selbst. Oder Freunden. Aber diese Fragen, sie klangen so absurd, so bizarr und an den Haaren herbei gezogen, sie mussten blanke Polemik sein. Eine komödiantische Replik auf das Leben, um mit all den Widrigkeiten, die selbiges zu bieten hat, irgendwie klarkommen zu können. Warum war er nicht genug? Wieso schien ihn niemand zu sehen? Weshalb fühlte es sich immer so an, als sei er eine Belastung für andere, egal wie viel oder wenig er tat? Was war so fundamental falsch an ihm? Und Luke wusste, so einfach die Antworten auf all das für alle anderen sein mochten, so schwer fielen sie ihm selbst.

Ein tiefer Seufzer. Beinahe widerwillig setzte er sich wieder auf, wischte sich mit dem Handballen über das Gesicht, hielt kurz inne und atmete dann entschlossen durch. Er würde nicht aufgeben, und er würde sich vor allem nicht diesem emotionalen Sturm ergeben, der ihn aus der Bahn zu werfen drohte. Seine Augen tasteten über den Schreibtisch, die Tastatur, sein Blick kletterte wieder am Bildschirm empor und las die wenigen Worte, die er bislang zu einer provisorischen Überschrift seines Textes getippt hatte. Mit einem leisen Klackern der Tastatur versuchte er es erneut.

Stunden später vibrierte es. Zweimal, einmal auf der anderen Seite des Zimmers, einmal an seinem Handgelenk. Luke erkannte, dass sich die Vibration diesmal anders anfühlte. Länger, beständiger, nicht das kurze Vibrieren einer unwichtigen Meldung. Er hielt sich nicht mit seiner Armbanduhr auf, er stand umgehend auf und suchte nach seinem Telefon. Fand es. Schaltete es an. Eine Benachrichtigung leuchtete ihm entgegen. Diesmal war es kein rotes Symbol. Diesmal las er die Worte. „Hallo, endlich habe ich ein bisschen Zeit. Wie geht es dir? 😀“ Und mit einem Mal waren all die Stürme, all das laute Tosen vergessen. Und die Sonne strahlte warm und hell an diesem kalten, regnerischen Novembertag.

Inkompetenzvorwürfe

Seit dem Jahreswechsel heißt es nicht mehr „Anne Will“, sondern „Caren Miosga“ – eine der wichtigsten politischen Talkshows des deutschen Fernsehens wurde ausgetauscht. In ihrer ersten Sendung führte Caren Miosga zunächst ein mäßig interessantes Interview mit Friedrich Merz – warum die Medien aktuell vor allem interessiert zu sein scheinen, wie sich Merz mit Markus Söder aus Bayern im Streit um die Kanzlerkandidatur einigen wird bleibt ein journalistisches Rätsel.

Anschließend kommen noch zwei Experten mit an den Tisch: die ZEIT-Journalistin Anne Hähnig sowie ein Soziologieprofessur der LMU München, Prof. Dr. Armin Nassehi. Und insbesondere was die beiden über die politische Situation in Deutschland und die Bewertung der AfD im Parteiengefüge Deutschlands zu sagen hatten, fand ich wenigstens bedenkenswert.

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Kunstgedanken

Die meiste Zeit meines Lebens hatte ich eine eher ambivalente Haltung zur (bildenden) Kunst. Auf der einen Seite war mir immer der handwerkliche und kreative Schaffensprozess von Bildern und Plastiken bewusst, keine Frage. Aber wir kennen auch alle diese Werke aus Galerien und Museen, bei denen man vor dem Bilderrahmen steht, den Kopf schief legt, „Hmmm“ murmelt und sich denkt: „Ja, das hätte ich mit drei auch geschafft“.

Anders ausgedrückt: Für sehr viele Jahre meines Lebens blieben mir wichtige Aspekte künstlerischen Schaffens und Ausdrucks vollkommen verborgen, weil ich mich allein auf das Resultat und das dafür notwendige Fertigkeitenarsenal konzentriert habe. Eines, das mir noch dazu vollständig abgeht, weswegen ich zwar Kunst ansehen, aber nicht zwangsweise selbst produzieren kann.

Verändert haben meinen Blick auf das künstlerische Schaffen ausgerechnet moderne Künstler*innen auf TikTok, Twitch und Instagram. Die mir klar gemacht haben, dass Kunstschaffen weitaus mehr ist, als nur mit einem Pinsel vor der Leinwand zu stehen und Motive zu kreieren. Oder sagen wir eher: dass Kunst sehr viel mehr als das sein kann.

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