Grenzen der Freiheit

Freiheit ist insbesondere in westlichen Demokratien ein hohes Gut. Die Freiheit vor Repression, vor Gängelung durch den Staat, die Freiheit zu eigenständiger Entwicklung und Entfaltung, die Freiheit, wohnen, leben, arbeiten und lieben zu dürfen, wo, was und wen man will. Bisweilen wird aus der Freiheit gar ein Wahlkampfthema. Wenig überraschend etwa in Zeiten der Pandemie, wenn zahlreiche dieser Freiheiten beschnitten und eingeschränkt werden, offenkundig einer Gesellschaft zum Wohle, die mit diesem Miteinander schon lange nichts mehr anfangen kann.

In gewisser Weise kommt mir Freiheit oft wie ein Rahmen vor, wie ein Fenster, in dem persönliche Individualität und gesellschaftliche Konformität miteinander rangeln dürfen. Beides schließt einander nicht zwangsweise aus – es ist durchaus möglich, den eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu folgen und dabei gesellschaftlich angepasst durchs Leben zu gehen. Vorausgesetzt, Werte und Grundvorstellungen der Einzelperson wie der Gesellschaft gehen grundsätzlich in die gleiche Richtung. Je weiter beides jedoch voneinander divergiert, desto mehr Spannungen entstehen. Wer sich selbst gerne als plündernder, vagabundierender Robin Hood durch die Straßen der Stadt ziehen sieht, um eigenmächtig Besitzumverteilungen vornehmen zu können, wird zwangsweise mit einem sehr verständlichen Bedürfnis der Bevölkerung nach sicherem Eigentum konfrontiert werden. Je extremer die Ausprägungen beider Seiten, desto eingeschränkter mögen einem die Freiheiten vorkommen, die man so hat. Trotzdem scheint dieses Fenster, dieser Handlungsspielraum, notwendig. Denn nur so kann die Einzelne sich entwickeln und die Gesellschaft zugleich fortbestehen.

Wie komme ich nun auf dieses ganze Thema? Dem obigen Link zum Trotz hat das alles gar nichts mit Corona zu tun, sondern mit den USA. In einer Kolumne von Heike Buchter – Schusskerben in den Bäumen – beschreibt die Autorin auf ZeitOnline eine gesellschaftliche Situation, die uns einerseits spätestens (!) seit dem grausamen Mord an George Floyd wieder vollkommen bewusst sein muss, gleichzeitig aber auch schon immer bewusst gewesen sein muss, denn die Probleme sind ja nicht über Nacht neu entstanden. Es vergeht ja kaum ein Monat oder gar eine Woche, in der nicht von brutalen Schießereien, Morden, Toden oder Polizeigewalt in den USA berichtet werden könnte. Es klingt fast schon beiläufig, wenn Frau Buchter zu einer Schießerei in New York schreibt: „In der Pandemie sind solche Vorfälle blutiger Alltag in New York geworden.

Es hat bei mir doch einen Augenblick gedauert, bis diese Worte durch die gesamte Großhirnrinde gesickert sind. Blutiger Alltag? In der Pandemie? Inwiefern kann denn eine globale Pandemie als Begründung dafür herhalten, dass sich Menschen auf offener Straße bekriegen und erschießen?

Der Besitz und Gebrauch von Schusswaffen gehört mit zu den Dingen, die uns „Europäer“ – ich generalisiere an dieser Stelle aus Einfachheitsgründen über die Maßen, denn auch hier gibt es andere Vorgehensweisen, beispielsweise in der Schweiz – sehr grundsätzlich von den US-Amerikanern unterscheidet. Hier die kontrollierte Abgabe von Schusswaffen an Privatpersonen, die strikte Kontrolle und ein umfangreiches Gerüst von Gesetzen und Regulierungen. Dort das Gewehr, das man beim Wochenendeinkauf im Walmart noch schnell mitnehmen kann, da Schusswaffen als persönliches Grundrecht jeder US-AmerikanerIn erachtet werden. Der ehemalige Präsident Trump hat sehr erfolgreich Wahlkampf geführt mit seiner Behauptung, seine politischen Gegner wollten am „second amendment“ rütteln, also jenem Zusatzartikel der US-Verfassung, die dem Staat die Einschränkung des Waffenrechts untersagt.

Wenn Privatpersonen so massiv darauf dringen, Waffen tragen dürfen zu müssen, dann stellt sich doch automatisch die Frage: Warum? Geht man zusätzlich wohlwollend davon aus, dass diese Waffen nicht selbst für kriminelle Übergriffe gedacht sind, denen sie offenbar dem Selbstschutz. Gegenüber anderen BürgerInnen? Gegenüber dem Staat? Es erinnert an (vielleicht gar nicht gar so) vergangene Tage, wenn der Range-Besitzer mit der Schrotflinte auf der Veranda steht, den Banditen wüste Verwünschungen entgegen brüllt und sie anschließend mit Schrot und Blei vom Hof jagt. Wer kein Vertrauen darauf hat oder haben kann, dass die Gemeinschaft bereit und willens ist, (a) ihrerseits auf unrechtmäßige Gewaltausübung zu verzichten und (b) den Einzelnen rechtzeitig zur Seite zu stehen, wenn diese in Bedrängnis geraten, dann muss Selbstbewaffnung als einzig legitimes Mittel verbleiben.

Es wäre natürlich anmaßend zu behaupten, dass allein die USA solche Probleme hätten. Es alarmiert mich beispielsweise immer, wenn ich mitbekomme, wenn Frauen sich gegenseitig den Rat – oder vielmehr die Erinnerung – geben, nicht das Pfefferspray zu vergessen, wenn sie aus dem Haus gehen. Auch wenn selbiges nicht dem Kaliber einer Handwaffe entspricht, bleibt die Intention und auch die Ursache die gleiche: die ausreichende Wahrscheinlichkeit, in eine Situation zu geraten, in der von staatlicher Seite nicht rasch genug, wenn überhaupt, Hilfe zu erwarten ist.

Zurück zum Artikel. Der Sohn der Autorin schließt sich hier unter anderem einer politischen Grundforderung an: „Defund the Police“. Demonetarisiert die Polizei. Was sicherlich sowohl mit materiellem als auch personellem Abbau einher gehen würde. Auf mich wirkt diese Forderung nachgerade bizarr – steigender Kriminalität soll man also durch weniger Polizei entgegen wirken? Das offenbart ein drastisches Problem, wenn die Bandenkriege und Kleinkriminellen auf der Straße als weniger bedrohlich empfunden werden als der eigene Sicherheitskörper. Das heißt ja nichts anderes als dass zumindest empfunden wird dass die Mehrheit aller blutigen Straftaten von PolizistInnen begangen wird. Wenn das alles wegfiele, dann sei das offenbar ein Gewinn. Hui.

Klar ist aber auch, dass steigende Polizeipräsenz umgekehrt ebenfalls keine Lösung sein kann. Schon jetzt liest man als Begründung für „tödliche Unfälle“ im Dienst „Überforderung“ der BeamtInnen. Dem liegen ganz gewiss eine schlechte, unzureichende Ausbildung und auch eine fragile gesellschaftliche Situation zugrunde. Beides Dinge, die nicht weniger, sondern eher mehr Geld erfordern würden. Also mal wieder aus europäischer Sicht. Wer weniger Geld in die Polizei investiert, kann sie ja noch weniger ausbilden und somit auf die Situationen vorbereiten, denen sie begegnen werden? Und wie soll eine gesenkte Polizeipräsenz je dafür sorgen, dass Menschen überzeugt davon sein werden, dass die Polizei selbst im Krisenfall rechtzeitig zur Stelle sein wird? „Tut uns leid, Sir, aber wir haben derzeit nur zwei Beamte im Dienst und etwa 40 Meldungen in der letzten halben Stunde, wir kommen aber die Woche sicher noch bei Ihnen vorbei.“

Was hat das alles nun mit Freiheit zu tun? Ich finde es wahnsinnig spannend, wie unterschiedlich „Freiheit“ gelebt oder auch interpretiert werden kann. Der Begriff Freiheit wird nicht nur individuell, sondern auch kulturell maßgeblich unterschiedlich definiert, und es werden ihm ganz verschiedene Ansprüche und Räume zugesprochen. Ich würde behaupten, in Deutschland gilt ganz allgemein gesprochen der alte Grundsatz: „Die Freiheit des Einen endet da, wo die Freiheit des Anderen beginnt„. Ein Merksatz, der mir zu Schulzeiten wahnsinnig gut gefallen hat und den ich auch heute noch als Prämisse für meine Interpretation von Freiheit erachte. Du kannst alles Mögliche machen, solange du damit niemand anderen beeinträchtigst. Der Raucher muss rauchen können, soviel er will – solange er durch den Qualm nicht meine körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt. Skeptiker oder Unzufriedene müssen demonstrieren können, so lange und soviel sie wollen – solange sie dabei nicht die Gesundheit anderer Menschen in Gefahr bringen. Am Ende ist das alles wieder ein Spiel und ein Interpretationsfeld im Fenster der Freiheit. Und dann mitunter eine Güterabwägung.

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