Die SPD im Wunderland

Seit Jahren und Legislaturen lässt sich der zunehmende Verfall einer alten, verdienten und historisch bedeutsamen Partei in Deutschland beobachten. Die Verdienste der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands für die Rechte von Arbeitern und vor allem ihre Position und Haltung in den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte kann man gar nicht hoch genug bewerten. Umso erschreckender ist das Bild, das diese altehrwürdige Partei in den letzten Jahren abgibt. Eine Partei gefangen im unauflösbaren Kontrast zwischen eigenem Anspruch als Volkspartei und inhaltlicher Selbstauflösung.

Die meisten allgemeinen Vorwürfe, die man der SPD gegenüber vernehmen kann, sind keine neumodischen Konstrukte. Noch immer entzündet sich eine aufgebrachte Schar an ehemaligen SPD-WählerInnen an der Agenda 2010 und den „neoliberalen“ Schritten, mit denen Gerhard Schröder seine Partei damals vermeintlich gen Abgrund geritten haben soll. Ebenso laut die Suche nach dem inhaltlichen Kern der Partei. „Wofür steht ihr eigentlich noch?“ Es ist Ausdruck einer zunehmenden Entfremdung einer Partei mit ihrer Basis und der gesamten Wählerschaft.

Besonders deutlich manifestiert sich diese Entzweiung stets dann, wenn das nach innen propagierte Selbstbild von der großen, alten Volkspartei SPD nicht standhalten will vor dem Abgleich mit den quantitativen Wahlergebnisse. Schon die Unionsparteien tun sich schwer damit, sich selbst noch als „Volkspartei“ zu bezeichnen, kommen sie in Umfragen doch nur mit Müh und Not noch an die 30%-Marke. Die SPD? Krebst derzeit bei stabilen 15% durchs WählerInnen-Bett, somit noch einmal stolze 5% unter dem letzten Wahlergebnis 2017. Der Frust muss groß sein in der Parteispitze. Was soll man denn noch tun? Dem eigenen Bekunden nach hat man viele wichtige, große Gesetzgebungen auf den Weg gebracht und auch dem letzten Kabinett Merkel einen deutlichen sozialdemokratischen Stempel aufgedrückt. Allein, sehen will das offenbar keiner. Schlafen denn alle?

Vielleicht vergisst man aber in der SPD-Parteizentrale auch einfach zu schnell all die blöden Fehlerchen wieder, die im Laufe der Zeit so gemacht wurden. Etwa 2013, als das Wahlergebnis der Bundestagswahl sogar eine Mehrheit linker Parteien (SPD, Grüne, Linke) zuwege gebracht hätte. Für die Verständigung mit der Linken reicht der Kompromisswille offenbar nicht aus, doch das Machtstreben von Sigmar Gabriel wollte trotzdem erfüllt werden – ohne Not ging man eine Große Koalition ein, von der es einstmals hieß, sie sollte eine Ausnahme bleiben und dürfe niemals zur Regel werden. Es war viel Überzeugungsarbeit vor allem von der späteren Parteichefin Nahles notwendig, die – mal flehend, mal schreiend – am Rednerpult die Fahnen schwang für die Machtoption, denn nach Müntefering wissen wir ja: „Opposition ist Mist!“. Man kann das natürlich auch deuten als „Prinzipien sind klasse, zahlen mir aber nicht die Miete.“ Zwar hat die Parteibasis mehrheitlich für die Große Koalition gestimmt. Man kann mir aber nicht erzählen, dass dies vor allem aus politischer Überzeugung heraus geschah. Was bleibt einem schon anderes übrig, wenn die eigene Parteiführung so demonstrativ an die Töpfe der Macht möchte?

2017 ein vergleichbares Spiel, nur noch unterlegener. Die Union sieht sich gezwungen, in Verhandlungen mit Grünen und FDP einzutreten. Die FDP spielt ein abgekartetes Spiel – Christian Lindner fährt die Schiene „Lieber nicht regieren als schlecht regieren“, was soviel bedeutet wie: „Wir haben nicht das Zeug zum Regieren, aber aus der Opposition kann man laut krähen, das ist super!“. Das ist zwar ehrlich, dann aber doch auch wieder verlogen, schließlich ist er nicht mit dem Ziel der Oppositionsarbeit in den Wahlkampf gezogen. Trotzdem kann er sich leicht aus der Affäre ziehen – denn die SPD lässt sich umgehend (vom eigenen Bundespräsidenten!) vor den Karren spannen und zieht diesen eigenständig aus dem Dreck. Der Kanzlerin, die unbedingt an der Macht bleiben will, luchst man zwar einige zusätzliche MinisterInnen-Ämter ab. Und man kann sich später hinstellen und betonen, man habe sich auf die Regierungskoalition nur eingelassen, weil man dies aus staatstragender Verantwortung heraus habe tun müssen. Aber wirklich lange bitten hat man sich vermutlich nicht lassen müssen. So bleibt man immerhin an der Macht. Und erspart Angela Merkel lästige Konstrukte wie eine Minderheitsregierung, bei der sie keine gute Figur gemacht hätte.

Dann erinnern wir uns an den damaligen Spitzenkandidaten Martin Schulz, der mit seinem „Schulz-Zug“ erst die Union im Eiltempo überholt hat und anschließend spektakulär gescheitert ist. Wie hat er noch groß im Wahlkampf getönt? Er wollte auf gar keinen Fall als Minister in ein Kabinett Merkel eintreten, er sei angetreten um Kanzler zu werden. Kaum ist die Wahl verloren und die SPD bereitet sich auf weitere vier Jahre als Juniorpartner vor, klingt das schon anders – da fordert der ehemalige Kanzlerkandidat ein Ministeramt. Ob ihn der öffentliche Backlash wirklich überrascht hat?

Wandern wir in die Gegenwart. FDP und Grüne legen ein „Selbstbestimmungsgesetz“ vor, das endlich mit dem völlig überalterten und menschenunwürdigen Transsexuellengesetz aufräumen soll, unter dessen Knute sich Menschen, die ihre sexuelle Identität ihrem eigenen Empfinden anpassen wollen, wirklich unwürdigen Befragungen und Prozessen unterziehen müssen. Die Abstimmung findet statt zwei Tage nach dem IDAHOBIT, dem Internationalen Tag gegen Homophobie – und natürlich schwingt die SPD als fortschrittsorientierte vermeintliche Volkspartei fröhlich die Pride-Flaggen auf sozialen Plattformen, um ihre „Alliance“ kundzutun. Zwei Tage später stimmt sie mit dem Koalitionspartner gegen das Gesetz. Nicht aus eigener Überzeugung. Sondern weil man die Koalition nicht gefährden wolle.

Saskia Esken, inzwischen SPD-Vorsitzende gemeinsam mit Norbert Walter-Borjans, schreibt dazu auf Twitter, dass man sich mit der Union nicht habe einigen können. Es sei aber nun mal Corona, es gäbe so viele Menschen, die Hilfe bräuchten, vor allem so viele notleidende Kinder, da könne man den Koalitionsbruch nicht riskieren. Wir merken uns das mit den Kindern, ja?

Saskia Esken erzählt hier also, dass man die grundlegenden Rechte von Minderheiten, die es ausdrücklich zu schützen und bewahren gilt, in Zeiten einer pandemischen Lage schon mal niedriger bewerten müsse. Man kann sich ja nicht um alles kümmern, gell? Das alles ungeachtet der Tatsache, dass wir Mitte Mai 2021 schreiben und die nächste Bundestagswahl im September stattfindet, also direkt nach der Sommerpause die Karten ohnehin neu gemischt werden. Zudem könnte man fragen: wäre nicht die Union dann auch maßgeblich schuld, würde sie aufgrund einer solch intimen Gewissensfrage wirklich die Koalition aufkündigen? Mitten in einer Pandemie? So kurz vor den Wahlen? Es ist schon reichlich verlogen, wenn man einerseits große Partnerschaft und Bündnis mit der LGBT-Community propagiert, anschließend aber nicht dafür einsteht.

Der Vorfall wird noch etwas pikanter zwei Tage später, wenn ein Mitglied der JuSos aus Niedersachsen feststellt: „Die CDU will das #Lieferkettengesetz nicht mit beschließen. Und wir haben gestern aus Koalitionstreue und gehen [sic!] das Gewissen das #Selbstbestimmungsgesetz abgelehnt.“ (Tweet Noel Kramer)

Nicht nur, dass man sich unweigerlich an die Stirn packen und fragen möchte: „Seid ihr wirklich überrascht? Huch? Nein sowas?“. Man darf darin auch die Haltung der SPD evaluieren: Wir lassen das Selbstbestimmungsgesetz durcfallen, dafür gebt ihr uns aber das Lieferkettengesetz. Oder in anderen Worten: Wir wedeln gerne mit Pride-Flaggen herum, weil uns das schick aussehen lässt, aber deren Rechte sind für uns eher Verhandlungsmasse um unsere eigentlichen Ziele zu erreichen.

Ich möchte betonen, dass ich gar nichts daran verwerflich finde, dass die SPD das Lieferkettengesetz als wichtig erachtet. Oder dass sie in Zeiten einer Pandemie eine Veränderung des Transsexuellengesetzes nicht notwendig findet. Die SPD ist eine eigenständige Partei, sie soll und muss eigene Werte, Prioritäten und Positionen haben, sonst wird sie nicht gebraucht. Es ist niemandem damit gedient, wenn sie wortlos die Haltung anderer Parteien übernimmt.

Es ist jedoch widerwärtig und falsch, mit der Würde und der gesellschaftlichen Situation von Minoritäten wählerfischen zu gehen, indem man sich deren Positionen zueigen macht, sie in sozialen Medien propagiert und sich so einen schönen Anstrich verpasst, während man gleichzeitig deren Rechte nicht als wichtig genug erachtet, daraus eine Gewissensfrage zu machen. Auf diese Weise benutzt die SPD ganz bewusst eine gesellschaftliche Gruppe für ihre eigenen Zwecke. Und muss sich im Anschluss daran natürlich auch an ihren Taten messen lassen. Das könnte in diesem Fall kein sehr positiver Beitrag werden.

Zum Abschluss noch die Causa Giffey, inzwischen Ex-Familienministerin und somit mal zuständig für Frauen, Familie und Kinder. Wir erinnern uns? Kinder. Das sind die kleinen Stöpsel, die von der Bundesregierung schon seit Pandemiebeginn grob vernachlässigt werden, die aber Frau Esken zufolge ganz viel Unterstützung nötig haben. Worin ich ihr sogar beipflichten möchte. Frau Giffey also stolpert final über ihre Plagiatsaffäre und bekommt nicht nur ihren Titel endgültig entzogen, sondern zieht auch die notwendige Konsequenz und tritt zurück. Inzwischen wird die Ministerin für diesen folgerichtigen Schritt hoch gelobt, früher wäre das ein ganz normaler Akt gewesen. Für die SPD steht außer Frage, dass sie sich natürlich weiterhin als Kandidatin für das Amt der obersten Bürgermeisterin von Berlin eignet. Das müssen die BerlinerInnen natürlich ganz für sich allein entscheiden. Es zeigt aber schon auch, welchen Respekt SPD und Frau Giffey vor diesem Amt als solches haben.

Noch viel witziger ist aber, dass die SPD am Tag nach der Amtsaufgabe beschließt, den Posten nicht mehr erneut zu besetzen. Stattdessen werden die Aufgaben des Familienministeriums nun einfach von der Justizministerin mit übernommen. Die sei schließlich eingearbeitet. Vermutlich sieht man keinen dringenden Bedarf mehr darin, für die wenigen verbleibenden Monate bis zur Bundestagswahl jemanden nachrücken zu lassen. Vielleicht hat man auch einfach niemanden mehr, der sich mit diesen Themenbereichen auskennt.

Es ist dabei zu betonen, dass die SPD hier eher im Sinne politischer Tradition agiert. Denn es ist üblich, dass vakante MinisterInnen-Posten in Wahljahren nicht nachbesetzt werden. Prinzipiell kann man das auch verstehen – worin liegt der Sinn, jemanden in die Amtsführungsgeschäfte eines Ministeriums einarbeiten zu lassen, der in wenigen Monaten ohnehin seinen Posten wieder räumen muss? Ich möchte hier jedoch eher der Opposition folgen, die aus meiner Sicht zurecht kritisiert, dass vor allem Kinder und Familien schwer unter der Coronasituation der letzten Monate zu leiden hatten. Es sendet ein fatales Signal in die Bevölkerung, wenn dann ausgerechnet das Familienministerium seine Agenda als „abgearbeitet“ betrachtet und nur noch mitverwaltet wird. Hätte es dafür keine andere Lösung gegeben? Wieso hat die SPD nicht auf Franziska Giffey eingewirkt und sie darum gebeten, ihre bundesministerielle Tätigkeit trotz Plagiatsaffäre bis Ende der Legislatur laufen zu lassen? Gut, Frau Giffey muss sich jetzt natürlich auf ihren eigenen Wahlkampf konzentrieren.

Nochmal. Die SPD besteht einerseits auf Koalitionstreue, weil man in Zeiten von Corona keine Instabilität verursachen will, und begründet unter anderem mit dem Kindeswohl. Die vier Monate bis zur Bundestagswahl muss man halt damit leben. Die gleiche SPD findet es aber nicht tragisch, dass ein Ministerinnen-Posten, der sich explizit mit Kindern befasst, für die gleichen vier Monate vakant bleibt.

Zurück zum Ausgangspunkt. Ist der Parteispitze der SPD wirklich nicht klar, warum die Umfragewerte partout nicht mehr steigen wollen? Schon Sigmar Gabriel und Andrea Nahles haben sich keine Mühe mehr gegeben, ihre Lust auf Machtpositionen verstecken zu wollen. Franz Müntefering hat es ja sogar in eine griffige Catch-Phrase verpackt. Aber die gegenwärtigen Entscheidungen gleichen ja einer vollständigen politischen Selbstaufgabe. Man lässt den Koalitionspartner mit menschenunwürdigen Entscheidungen gewähren, man belässt eigene Ministerposten vakant. Und setzt sich dann ins Fernsehen und strebt offen und laut die Kanzlerkandidatur an.

Die SPD lebt wirklich in einer ganz eigenen Wunderwelt. Mal sehen, ob dieser Wachtraum irgendwann auch wieder endet. Oder ob sich der WählerInnen-Schwund weiter fortsetzt.

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