Cyberpunk 2077 war mit Abstand einer der am heißest erwarteten Videospieltitel aus dem Jahre 2020. Und schaffte es, anders als beispielsweise Evil Genius 2 (Erscheinungstermin 2021) oder Vampire: The Masquerade – Bloodlines 2 (Erscheinungstermin: auf unbekannt verschoben), sogar, den originalen Releasetermin zu halten. Doch ob das so ratsam war?
Worum geht es noch gleich?
Ich möchte mir an dieser Stelle nicht die Mühe machen, das Spiel eingehend zu beschreiben. Das ist an vielen Stellen im Netz sehr viel besser gemacht worden, als ich das jemals könnte. Deswegen in aller Knappheit: Cyberpunk 2077 spielt in einer Shadowrun-ähnlichen Zukunftswelt, in der sich die Menschen durch technische Bauteile und Software augmentieren lassen. Konzerne haben Macht, Einfluss und Geld, Menschen sind hingegen eher Konzernsklaven und versuchen, sich irgendwie über Wasser zu halten. Gewalt, Drogen, Sex und Technik regieren die Straßen und Schatten übervölkerter Städte. Folgerichtig ist Cyberpunk 2077 eine interessante Mischung aus First Person Shooter und Rollenspiel.
Entwickler CD Projekt Red (auch: The Witcher) musste heftige Kritik einstecken für den absolut unfertigen Zustand des Spiels und eine sehr dubiose Vorgehensweise bei der Bereitstellung von Testfassungen. Wenn man sich als Entwickler sogar dazu genötigt sieht, sich offiziell auf Twitter für die gemachten Fehler zu entschuldigen und Besserung zu geloben, lässt das tief blicken. Da möchte man doch meinen, dass der kürzlich erst erschienene Patch v1.2, über 30 GB groß, wenigstens einen Teil der Probleme beheben würde. Vermutlich tut er das auch. Sicherlich aber nicht alle.
Wieso der Hype?
Was bis heute vollständig an mir vorbei geht, ist der riesige Hype, der um den Titel gemacht wird. Weniger derjenige vor Release (an dem die meisten großen Titel schlussendlich zerbrechen, weil die Spiele nie die Erwartungen erfüllen können, die an sie gestellt werden). Gefreut habe ich mich auf das Spiel genauso wie alle anderen. Aber mich flasht und irritiert total die überbordende Begeisterung, die selbst nach Release SpielerInnen für das Rollenspiel aufbringen können.
Nicht, dass ich Cyberpunk 2077 schlecht finde – wirklich nicht! Das Spiel ist gut, es sieht toll aus, es hat faszinierende Elemente und es transportiert den Cyberpunk-Charakter aus meiner Sicht durchaus überzeugend. Aber es hat so viele verwirrende, absolut unlogische Elemente und Bestandteile, die mich als Spieler permanent aufs Glatteis führen, weil ich nie genau weiß, was das Spiel eigentlich sein will.
Ein paar Beispiele
Beispiel 1 – Kleidungen. Gleich zu Beginn des Spiels, sobald V das erste Mal sein/ihr eigenes Apartment betritt, erhält er/sie Zugriff auf eine ganze Kleiderstange voll schick designter Klamotten. T-Shirts, Jacken, Hosen, Hüte, Schuhe. Die Sachen gefallen mir wahnsinnig gut, passen gut ins Setting und ich bin sogar geneigt, auf ein paar Punkte Panzerung zu verzichten, um den Charakter rollenspielerisch stimmiger einzukleiden. Mein einziges Problem dabei ist: Wozu das Ganze? Cyberpunk 2077 ist ein First Person Titel, ich sehe höchstens beim Blick nach unten Vs Körper, und dann auch nicht mehr als die Hose. Third Person kommt dann zum Tragen, wenn ich im Auto sitze – aber dann sehe ich so gut wie nichts vom Charakter, es sei denn, ich schaue in den Rückspiegel. Bleiben nur ein paar speziell positionierte Spiegel, in denen sich mein Charakter selbst betrachten und für die Kamera posieren kann. Ich ziehe mich also quasi allein für meinen Inventarbildschirm an? Warum? Was soll das?
Beispiel 2 – Genitalien. Cyberpunk 2077 hat vor Release, soweit ich das damals mitbekommen hatte, mit einer gewissen Offenheit, einer Freizügigkeit geworben. Etwas, das gut in ein Setting ala Shadowrun passt und das für viele erwachsene SpielerInnen garantiert ein Kaufgrund sein kann. Einfach, weil es wenige Titel gibt, in denen solche Aspekte überhaupt repräsentiert werden. Ich kann mir im Charaktererstellungsbildschirm von V also aussuchen, welche Genitalien er/sie haben soll (fantastisch: die Auswahl hat NICHTS mit dem geschlechtlichen Grundmodell oder der Stimme des Charakters zu tun – ein modernes Spiel!). Ich kann V also problemlos einen Penis verpassen, ich darf sogar aussuchen, ob er beschnitten oder unbeschnitten sein soll und welche Größe er haben darf. Das Problem an der ganzen Sache: IM Spiel trägt V Unterwäsche. Also im Spiel, wenn ich an mir runterblicke, oder auch im Spiegel. Die niedlichen Extrapolygone im Genitalbereich tauchen nur an einem einzigen Ort auf: im Inventarbildschirm. WARUM? Was soll das? Wieso gibt es das Feature, wenn es später gar nicht gebraucht wird?
Beispiel 3 – Sexualität. Wenn der Protagonist schon einen Penis hat, dann sollte er ihn in einer Welt wie der von Cyberpunk 2077 vermutlich auch nutzen dürfen. Natürlich wird man in einem Spiel keine expliziten sexuellen Darstellungen erwarten dürfen. Trotzdem ist – wenigstens nach meinem Verständnis – freie, ungezügelte Sexualität ein nicht unerheblicher Bestandteil dieses Settings und notwendig, um die Spielwelt glaubhaft zu gestalten. Zur Verfügung stehen mir im Spiel (zumindest soweit ich bislang gespielt habe) zwei Prostituierte, einmal männlich, einmal weiblich. Recht viel mehr als eine lieblose, beliebig wiederholbare Filmsequenz gibt es dazu nicht. Ganz ehrlich? Da hatte ich im Hafenbordell von Khorinis in Gothic II (Release: 2002) mehr Spaß an der Thematik. Belastend. Nicht, weil ich unbedingt Sex in Spielen brauche. Aber er würde zu diesem Setting sehr viel beitragen. Wer also vorab bei der Anpreisung des Spiels die eigene Offenheit so stark propagiert, sollte am Ende auch liefern, oder?
Beispiel 4 – Roboterstadt. Die Stadt von Cyberpunk 2077, Night City, fühlt sich so lebendig an wie eine schlechte Robotersimulation. Roboter strahlen allerdings dann doch mehr Lebendigkeit und Lebensfreude aus als die NPCs in Night City, die stumpf und starrsinnig in den Straßen umher laufen, wenig auf den Spieler reagieren und prinzipiell so wirken, als hätten sie alle einen Stock im… nun ja. Die Handlungen und Animationen wiederholen sich rasch und lassen sich als solche auch beobachten – es macht einfach keinen großen Spaß, in einer Bar den NPCs beim Gamblen an den Spielautomaten zuzusehen, weil man nach wenigen Sekunden MERKT, dass es nur eine Animationsschleife ist. Ich erwarte ja nicht, dass jeder NPC mit einer eigenen simulierten Persönlichkeit versehen ist (obwohl ich DAS wirklich feiern würde). Aber selten habe ich bei einem großen, vielgepriesenen Titel so langweilige, flache, leblose Bevölkerungen erlebt. Hier lohnt ein Blick auf Watch_Dogs (vor allem Teil 1), das die generische Bevölkerung der Spielstadt äußerst glaubhaft modelliert.
Dazu kommt, dass Night City auch sonst sehr wenig zu bieten hat. Das liegt teilweise aber auch am Setting. Die Stadt ist farblos und eintönig, jede Ecke gleicht der anderen, alles verschwimmt in einem Mischmasch aus bronzefarben-grau und Technikkram. Ehrlicherweise ist genau das aber auch Cyberpunk, wie man sich das vorstellt. Die Stadt lädt mich aber nie dazu ein, sie einfach mal zu erkunden. Open World Spiele gibt es inzwischen wie Sand am Meer. In Assassin’s Creed: Valhalla reite ich gerne auf einem Pferd einfach mal ziellos durch die Landschaft, weil das England im 9. Jahrhundert unfassbar schön repräsentiert ist. In Night City habe ich das Gefühl, nach einer kurzen Autofahrt nachts bei Regen alles gesehen zu haben. Alle anderen Autofahrten kann man getrost überspringen.
Hier ist es für mich die Mechanik „Open World“, die keinerlei Sinn ergibt. Was soll ich mit einer offenen Spielwelt, die so spannend ist, dass ich am liebsten nichts von ihr sehen möchte? Es ist natürlich nicht ganz so dramatisch, wie ich das Problem hier zeichne, selbst Night City hat ein paar ganz nette Ecken. Aber 95% der Kreuzungen der Stadt haben für mich keinerlei Wiedererkennungswert. Sie dienen allein dazu, meinen Weg von A nach B zu füllen. Irgendwie schade.
Beispiel 5 – Polizei. Ein Problem, das stark kritisiert wurde, an dem der Entwickler auch arbeitet, aber offenbar noch keine endgültig befriedigende Lösung gefunden hat. Night City, Cyberpunk 2077, beschreibt eine Welt, in der Gewalt und Verbrechen zwar verboten ist, aber trotzdem allgegenwärtig. Das wird konterkariert, wenn der Spieler sich extra eine abgeschiedene Stelle aussucht, an der weit und breit kein Polizist, keine Drohne, nichts zu finden ist, ein Verbrechen begeht – und SCHWUPPS tauchen Vertreter der Sicherheitsbehörden aus dem Nichts in der Nähe auf. Selbst wenn man die logische Unstimmigkeit beiseite schiebt: Cyberpunk 2077 bestraft an dieser Stelle aktiv genau das Verhalten, das eigentlich das Cyberpunk-Universum erst ausmacht. Erneut eine Mechanik, die ich nicht begreife. Wieso erzähle ich die Geschichte einer solchen Welt, erschaffe dann aber eine Mechanik, die den Spieler dafür bestraft, Teil dieser Welt sein zu wollen? Das ist quasi das Gegenteil von Immersion.
Kein schlechtes Spiel – aber irgendwie auch kein gutes
Nochmal – Cyberpunk 2077 ist kein schlechtes Spiel. Wahrscheinlich ist es bei dem Produktionsbudget auch gar nicht möglich, einen wirklich schlechten Titel zu produzieren (ich freue mich über Gegenbeispiele). Für mich ganz persönlich sind all diese Elemente aber Mechaniken, die oberflächlich eingeführt werden und dann im Rest des Spiels gar keine Rolle mehr spielen. In die EntwicklerInnen viel Zeit und Energie investiert haben. Was etwas absurd wirkt, wenn es gleichzeitig auch bei den Kernmechaniken des Spiels zahllose Probleme gibt, die man nachträglich korrigieren muss.
Cyberpunk 2077 erweckt schlicht den Eindruck, dass man sich übernommen hat. Man hat versucht, eine Welt, ein Setting, ein Universum in all seinen Facetten zu zeichnen, in einer maximal offenen Spielewelt mit einem Spagat zwischen Shooter und Rollenspiel. Und nicht alles hat es bis zum Ende der Entwicklung geschafft. Das Ergebnis ist ein Spiel, das mich schon zu Beginn völlig überfordert, weil ich erst viel Zeit und Energie in bestimmte Mechaniken investiere, die sich schon nach wenigen Spielstunden als völlig überflüssig herausstellen.
Bleibt zu hoffen, dass CD Projekt Red weiterhin versucht, aus diesem Titel einen ähnlich großen Erfolg zu gestalten wie aus The Witcher 3 (ein Spiel, dessen Hype ich genauso wenig verstehe, allerdings aus anderen Gründen – dazu aber an anderer Stelle mehr). Viele Erfahrungen wird man dennoch erst in zukünftigen Spielen verarbeiten können.
Abschließend muss ich ausdrücklich noch eine ganz andere Sache betonen: die Hauptstory des Spiels? Hui! Da holen mich einige Missionen aber ganz gewaltig ab. Kein gutes Rollenspiel ohne eine gute Story. Und die von Cyberpunk 2077 finde ich sehr gelungen. Das ist wichtig! Das kommt hier nun fast zu kurz, als kleiner abschließender Paragraph in einem langen Artikel, in dem ich mich über verschiedene Kleinigkeiten echauffiere. Deshalb noch einmal – das Spiel ist gut, keine Frage. Wie bei vielen anderen Titeln auch ist es nur so wahnsinnig unbefriedigend, in einem tollen Spiel mit tollem Setting all diese spannenden und guten Innovationen und Mechaniken zu sehen, die dann nicht konsequent umgesetzt wurden. Aber das sind Erfahrungen, die vielleicht für Cyberpunk 2078 hilfreich sein können. Und dann können wir SpielerInnen uns auf ein noch viel besseres Spielerlebnis freuen.
PS: Darf ich als weiteres Negativbeispiel in diesem Spiel noch das Kampfsystem anführen? Ich versuche mich gerade mal wieder an einem der Wettbewerbskämpfe in Night City, und ich kann euch gar nicht sagen, wie frustrierend es ist, wenn man die ganze Zeit verliert – nicht, weil man zu schlecht ist. Bzw. das vielleicht auch. Sondern vor allem, weil die Gegner vom anderen Ende des Kampffelds zutreten und treffen können, weil das Spiel einen Treffer bestimmt, ganz gleich ob man in der Nähe steht oder nicht. Dann wäre es ehrlicher, die Kämpfe gleich direkt auszuwürfeln. Das kostet wenigstens weniger Zeit. Selbst nach Patch 1.2 bekomme ich einfach das Gefühl nicht los, Cyberpunk 2077 ist eine tolle Geschichte, die leider durch ein völlig marodes Spiel zunichte gemacht wird.